Doktorspiele

Andreas Schwarz

von Andreas Schwarz

Story

Ich sitze mit meinem Freund im Wohnzimmer. In den Nachrichten berichten sie über die Doktorspiele eines Schauspielers. Es sind schreckliche Spiele. Er spielt sie mit Bildern von Kindern. Mir dreht sich der Magen um. Ich sehe mir sein Gesicht an. Er hat es nicht notwendig, mit Kindern zu spielen. Warum tut er ihnen das an?, frage ich meinen Freund. Er hat Angst vor dem anderen, antwortet er.

Mein Freund ist keine Schönheit und hat dünne Haare. Aber sein Lachen zieht an und seine Augen sind blau. Ihn plagt keine Angst. Er habe auch einmal Doktor gespielt, gesteht mein Freund. Sie heißt Claudia. Er ist sieben. Sie ist sechs. In einem Wald zieht sie ihr Kleid hoch. Er lässt die Hosen vor ihr herunter. Sie sehen sich an und staunen, dass sie anders sind. Zu wissen, dass es das andere gibt, habe sich wie Angst angefühlt, sagt mein Freund. Sie haben sich angezogen und sind nach Hause gelaufen.

Claudia hat ihren Eltern davon erzählt. Sie durfte ihn nicht wieder sehen. Er hat gedacht, etwas Falsches getan zu haben, seufzt mein Freund. Seine Mutter hat ihn in den Arm genommen. Es war nicht falsch, hat sie gesagt. Es wäre für beide nur zu früh gewesen.

Ich bin mit einem coolen Typen mit Rasterlocken befreundet. Einmal bricht es aus ihm heraus. Er erzählt mir von einem Hüttenabend mit seinem Stiefvater. Er war zehn Jahre alt. Es wurde die schrecklichste Nacht seines Lebens. Er leidet bis heute daran. Wenn die Erinnerung zu schlimm wird, trinkt er ein Glas zu viel.

Eine Freundin berichtet mir, warum sie ihren Schwager nicht mehr im Haus haben will. Er ist ein freundlicher Onkel, der gern mit Kindern spielt. Im Sommer badet er im Pool mit ihnen. Eines Tages berichtet ihr die Tochter von der Hand des Onkels an ihrer Bikinihose. Die Angst vor dem anderen zieht weite Kreise.

Mein Freund sitzt neben mir auf dem Sofa und nippt seinen kalten Kaffee. Man weiß nicht, wann die Angst beginnt, sagt er. Mit zehn habe er mit seiner Oma eine Woche im gleichen Bett verbracht. Sie schlief nackt. Ihr mächtiger Busen baumelte jeden Morgen vor seinen Augen. Es waren zu große Dinger für einen kleinen Jungen, lacht mein Freund. Vielleicht sei er deshalb Frauen mit einer großen Oberweite lange aus dem Weg gegangen.

Der Abend wird lang. Mein Freund erzählt von seinem ersten Mal. Sie heißt Conny und ist zwanzig. Er sei fünfzehn gewesen, als sie sich zu ihm ins Bett legte. Er habe sich völlig überfordert gefühlt. Vielleicht sei es Angst gewesen. Nach Jahren trifft er sie zufällig auf der Straße wieder. Sie lädt ihn zu sich nach Hause ein. Er ruft sie nie an. Die Angst lässt einen nie wieder los, wenn man sie einmal gespürt hat, sagt mein Freund.

Die Geschichte über die Doktorspiele des Schauspielers verfolgt mich bis spät nachts. Ich suche nach ihm im Internet. Die Scheinwerfer lieben ihn. Ich versuche, ihn zu durchschauen. Plötzlich erkenne ich die Angst in seinen Augen. Vielleicht hat mein Freund recht. Vielleicht spielt er seine Doktorspiele, weil ihm das andere bei Kindern keine Angst macht.

© Andreas Schwarz 2023-01-29

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