Drachen fliegen lassen – 1

LineJakob

von LineJakob

Story

Samstag, 10.2.2018: Ich war heute das erste Mal bei Dr. Frentrup und er riet mir, meine Gedanken aufzuschreiben. Er meinte, das könne mir bei meinem Verarbeitungsprozess helfen. Helen ist gerade nicht da, was gut ist. Ich will nicht, dass sie mich fragt, wie es war. Ich war fünf Jahre alt, als mein Vater mir einen Drachen zum Geburtstag schenkte. Wir verbrachten den ganzen Tag am Strand und er zeigte mir, wie ich die bunte Raute mit den freundlichen Augen und dem lachenden Mund steigen lassen konnte. Ich glaube, an diesem Tag wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie sehr ich meinen Vater liebte. Er war groß und stark, und er wusste in jedem Moment, was zu tun war. Den Drachen habe ich immer noch. Mein Vater hat ihn für mich aufbewahrt und kurz bevor er vor drei Jahren starb, gab er ihn mir zurück. „Für deinen Sohn“, sagte er. „Wie schade, dass ich ihn nicht mehr kennenlernen werde.“

 Dienstag, 27.02.2018: Der Tod meines Vaters war es, der mich zum Nachdenken veranlasste. Helen und ich hatten uns zuvor nie mit dem Thema Kinderkriegen befasst. Wir fanden beide, dass dazu noch viel Zeit war. Bisher führten wir ein schönes Leben, unternahmen viel gemeinsam und gingen oft auf Reisen. Wenn ich meine Joggingrunden im Park drehte, nahm ich die Eltern auf den Spielplätzen im Park kaum wahr. Aber als mein Vater starb, veränderte sich alles. Ich fand unsere Wohnung plötzlich zu groß, zu still. Ich fragte Helen, wem wir von unseren Reisen erzählen sollten, wenn wir mal älter sein würden. Ich ging los und ließ meinen Drachen steigen. Dabei stellte ich mir vor, wie es wäre, ein Kind auf meinen Schultern zu tragen. Meinen Sohn. Irgendwann war es nicht mehr nur eine vage Idee, dass ich Vater werden könnte. Es war wie ein Ruf aus meinem tiefsten Inneren, die Sehnsucht danach, eine kleine Hand halten zu können und einen kleinen Körper mit meinem zu schützen, so wie es mein Vater getan hatte. Ich dachte eigentlich immer, dass dieses Gefühl nur bei Frauen ab einem bestimmten Alter auftritt. Helen und ich haben daraufhin über ein Jahr versucht, ein Kind zu bekommen. Ich hängte meinen Drachen über unser Bett. Er sollte uns Glück bringen und insgeheim wollte ich meinem Vater damit ein geheimes Zeichen geben. Aber Helen wurde nicht schwanger und damit wurde alles kompliziert. 

Mittwoch, 28.03.2018: Helen ist über das Wochenende zu ihrer Schwester gefahren, die gerade ein Baby bekommen hat. Ich schaffe das noch nicht. Ich muss zuerst diese dunkle Wolke auflösen, die seit einiger Zeit ein Teil von mir ist. Wir rechneten Helens fruchtbare Tage penibel aus und schliefen kaum noch aus Lust miteinander, sondern nur dann, wenn die Erfolgschancen am vielversprechendsten waren. Wir aßen gesünder, gingen früh schlafen und tranken keinen Alkohol mehr. Das Leben wurde zunehmend anstrengend, obwohl wir noch gar kein Kind hatten. Ich hängte den Drachen über unserem Bett wieder ab. Wir schämten uns vor ihm. Als alle Versuche erfolglos blieben, empfahl Helens Ärztin mir eine Untersuchung beim Urologen. Das Ergebnis meines Spermiogramms fühlte sich an wie eine Krebsdiagnose. Ich habe Dr. Frentrup gefragt, was von einem Mann noch übrigbleibt, wenn er nicht in der Lage ist ein Kind zu zeugen?  

© LineJakob 2024-03-01

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Romane & Erzählungen
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Emotional, Hoffnungsvoll
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