von Jessy Ot
Unbekannte Stimme
Schnell schnappe ich mir einen Apfel und verlasse das Haus. Dabei schlage ich vor Eile die Haustür so fest zu, dass der Putz von der Hauswand bröckelt und ein Teil der Kante vom Türrahmen splittert. Hoffentlich habe ich meinen Vater nicht geweckt. Er kann es überhaupt nicht ausstehen, wenn etwas beschädigt wird. Bei dem alten Gebäude wundert es mich, dass es noch nicht vollends zerfallen ist. Es zu renovieren oder in ein anderes Haus umzuziehen fehlt uns das Geld. Wir schaffen es gerade noch so über die Runden mit dem Gehalt meiner Mutter. Mein Vater ist arbeitslos geworden, weil sich sein Betrieb verschuldet hat. Er bekommt auch kein Arbeitslosengeld mehr. In all den drei Jahren hat er keinen Job mehr gefunden. Wo das Problem ist, weiß ich nicht, denn mein Vater hat keine Straftat oder dergleichen begangen. Wir haben nicht mal ein Auto, deshalb muss ich mit dem Fahrrad oder bei schlechtem Wetter zu Fuß zur Schule. Mein Fahrrad ist zwar nicht das Neuste und Coolste, aber es reicht allemal, trotz der Hänseleien über mich. Ich habe mich damit abgefunden, doch manchmal versetzen mir gewisse Lästereien einen Stich. Nur, weil ich keine reichen Eltern habe und in deren Augen keine coolen Sachen besitze. Manchmal wünsche ich mir, die Welt wäre anders, schöner, friedvoller, liebevoller, und gerechter. Keine amen hungernden Länder mehr, keine Umweltverschmutzung, keine Tierquälerei … Da könnte man so vieles aufzählen, was ich nicht richtig finde. In meiner Fantasie existiert meine Traumwelt, aber leider nicht in der Wirklichkeit. Ich habe mir aber mal vorgenommen unserer Welt zu helfen. Wie, weiß ich auch noch nicht, aber man braut nicht immer für alles Geld!
Am Ende des Waldes höre ich ein leises Flüstern. Eine weibliche Stimme hallt in der Ferne. Verunsichert bleibe ich stehen. Sie kommt mir so vertraut vor, doch ich kenne sie nicht. Ich blicke mich um, niemand ist zu sehen. Der Wind wird stärker, die ferne Stimme lauter. Sie ruft meinen Namen. Sie ruft mich zu sich. Gänsehaut breitet sich über meine Arme und Beine aus. Bilde ich mir das ein? Hier ist weit und breit niemand zu sehen. Welche junge Frau ist denn schon um fünf Uhr morgens im Wald spazieren? Na ja, außer mir. Eilig radle ich aus dem Wald und versuche neben dem Albtraum nun auch die weiche unbekannte Stimme zu verdrängen. Ich darf mich jetzt nicht verrückt machen lassen.
© Jessy Ot 2023-08-27