Drei Minuten – Nothing happens for a reason

Erdim Özdemir

von Erdim Özdemir

Story

Drei Minuten bis zum Feierabend. Die Augen langsam weg von den Bildschirmen, die Hand schleichend zum Schlüsselbund, der Schlüssel direkt ins gebrechliche Schloss der obersten Schublade, dort schlafend ein kleines Buch im grünen Einband. Das Drei-Minuten-Tagebuch. Es fragt den Wachmann nach dem Wetter und seiner Stimmung am Tag. Auf drei Zeilen lässt er die Worte tanzen, die den Tag beschreiben. Und dann versucht das Tagebuch ganz besessen, ihm ein Highlight aus der Nase zu ziehen.

,,Heute saß ich vor all den Monitoren mit ihren Bildern und Nachrichten des Schreckens, die ich nicht hinter den Bildschirmen erleben musste. Heute war kein Soja in meinem Essen, auf das ich allergisch reagiere. Heute wurde ich nicht diskriminiert. Heute bin ich. Heute bin ich dankbar für meine Wimpern. Heute bin ich dankbar für den abstehenden Fitzel Haut meines kleinen Zehs.”

Sein Tag war heute, na ja, scheiße. So ist es nun mal. Ihm sind all seine Privilegien bewusst inmitten seiner Benachteiligungen. Aber heute gab es nichts, wofür er dankbar sein konnte in all der Überforderung von Erschöpfung. Heute möchte er jammern, heute möchte er nicht undankbar sein, sondern einfach nicht dankbar sein. Mit der Scheiße des Tages muss er sich nun einmal abgeben. Dankbarkeit nö. Denn verdrängt ein toxischer Zwang von Dankbarkeit nicht das Eingeständnis von Problemen in der unmittelbaren Realität Am liebsten würde er sich selbst umarmen, er war traurig. That’s life. Unheimlich vieles trieb ihn in eine fiepende Embryonalstellung seiner Verzweiflung. Er jammert, einfach weil es ihm nicht gut geht. Fertig. Ja klar, das Leben ist zu kurz, um zu jammern. Aber auch wiederum zu kurz, um nicht Nichts zu fühlen – egal welches Gefühl, egal ob positiv oder negativ.

Oftmals widerfährt ihm der größte Abfuck, aus einem Disney-Film wird eine Geschichte von Stephen King. Und all das muss nicht das Resultat in einem Kausalgefüge sein. Nothing happens for a reason. Nicht alles ist vorherbestimmt und der Plan des Universums. Wir verlieren nicht Freunde in jungen Jahren oder Eltern ihre Kinder an den Tod, nur um die Wertschätzung des begrenzten Lebens zu erfahren. Eine Erklärung macht vieles einfacher, aber sie liegt nicht hinter jedem Ereignis verschleiert. Manchmal geschehen Dinge, weil sie einfach geschehen. Und Pandoras Büchse zeigt, dass im Leid Hoffnung schlummert, aber Leid nicht geschieht, damit wir Hoffnung gebären.

Schlimme Sachen passieren. Gute Sachen passieren. Heute am Jammern, gestern bessere Laune. In einem Haus, das zusammenbricht, verbergen sich die Geister unzähliger Gründe – nicht alles können wir hinterfragen. Wenn er traurig ist, dann will er Trost, denn vieles lief falsch. Verständnis beginnt zunächst nicht mit der Zusicherung von Hoffnung, sondern dem Eingeständnis des Schmerzes und Zuspruch.

Heute schreibt er in seinen drei Minuten: Laune: na ja. Tag: Heute war ich traurig. Wetter: War nicht draußen.

Highlight:

© Erdim Özdemir 2022-05-13

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