von Celine Gergel
Ich inspiziere das Fenster. Ist es wirklich geschlossen oder bin ich, ohne es zu merken, doch noch gegen den Hebel gekommen und habe diesen unabsichtlich wieder verschoben, sodass das Fenster wieder sperrangelweit geöffnet ist? Man möge sich gar nicht vorstellen, was alles passieren kann, sobald das Fenster für zwei bis drei Stunden in meiner Abwesenheit seine Toren öffnet. Von kleinen Insekten, die ins warme Zimmer krabbeln, über Vögel, die hereinfliegen und sonst was anstellen können bis hin zu einem zu starken Windstoß und ich kann mich um einen neuen Fensterrahmen kümmern. Ich schlage mit der flachen Hand gegen meine Stirn und schüttel mich, um die Horrorszenarien aus meinem Kopf zu vertreiben. „Komm schon, konzentriere dich jetzt“, sage ich zu mir selbst. „Wenn du noch länger dahin starrst, kommst du erst recht nicht los.“ Dass ich zu spät zu meinem Termin kommen könnte, braucht mich nicht zu beschäftigen, denn ich habe bereits dreißig Minuten früher angefangen, mein Zimmer abzuchecken. So wie jeden Tag. Seit vielleicht mal zehn Jahren. Richtig mitgezählt habe ich nicht. Es ist zur Gewohnheit geworden und doch nervt es mich jedes Mal aufs Neue, dass ich überhaupt so lange in meinem Zimmer stehe und manchmal gefühlt drei Jahre dafür brauche, um mich zu vergewissern, dass ich mir sogar die Position meiner Fernbedienung eingeprägt habe. „Komm schon, das letzte Mal jetzt“, sage ich zu mir zum vielleicht fünften Mal. Ich verenge zur Konzentration die Augen und fokussiere meinen Blick auf den Fensterrahmen. Dort ist keine Lücke zu erkennen, also ist das Fenster geschlossen. Bevor ich mich der Tür zuwende, mache ich noch mit meinem Handy ein Foto von dem Fenster, um wirklich sicher zu sein. Das Fenster, das Licht, der Fernseher, der Herd und weitere aus gestöpselte Küchengeräte waren erst der Anfang. Die größte Herausforderung stellt das Abschließen der Wohnungstür dar.
Ich weiß, dass ich die Tür abgeschlossen habe. Trotzdem drücke und ziehe ich an dem Türknauf und zähle leise bis zehn. Da scheppert es auf einmal in irgendeiner anderen Wohnung oder ich höre, wie jemand nicht gerade leise die Treppe hoch wandert. Also nochmal von vorn, bis ich mir auch wirklich sicher bin, dass ich nicht durch die störenden Geräusche die Tür in geistiger Abwesenheit wieder aufgeschlossen und dann nur angelehnt habe. Bevor ich mich endgültig auf den Weg mache, drehe ich mich nochmal zur Tür um und meine Augen wandern den schmalen Grat entlang, an dem Tür und Türrahmen ineinander übergehen. Wie lange stehe ich jetzt hier? Zehn Minuten? Was weiß ich! Ich merke, wie mich allmählich die lang ersehnte innere Ruhe überkommt und ich kann mich endlich auf den Weg machen. Ich schaue auf mein Handy. Diese dreißig Minuten hätte ich vorher noch für etwas anderes nutzen können und sonst würde ich mich jetzt erst auf den Weg machen. Aber so ist es nicht. Ich stelle mir jeden Tag einen einzigen Tag vor, an dem ich mich entspannt fertigmachen und mit einem einzigen Blick auf das Fenster, das Licht, den Fernseher, den Herd, die anderen Küchengeräte und die Tür losgehen kann.
Aber so ist es nicht. Wie ich bereits sagte, es ist nur eine Vorstellung.
© Celine Gergel 2024-01-06