Dreizehn

Anné Murrer

von Anné Murrer

Story

Natürlich habe ich getrauert. Ich habe viel geweint und fiel in eine ordentliche Depression. Doch tatsächlich dauerte es ganze sechs Jahre bis ich wirklich zusammenbrach. Es geschah nach einem sehr stressigen Semester an der Universität, als ich eine Entscheidung traf. Ich machte die Nacht durch, ging in der Früh zu meinem Hausarzt und sagte, dass ich die nächste Nacht nicht überleben würde, wenn ich keine Hilfe bekam. Also überwies er mich in die Psychiatrie. Dort verbrachte ich fast ein halbes Jahr und lernte eine Menge über mich und meine Vergangenheit. Ich dachte immer, ich wäre mit dieser Anspannung geboren worden, die manchmal fast unerträglich zu werden drohte. Und dass ich schon immer ein ängstlicher Mensch gewesen sei. Introvertiert eben, nicht die Sorte Mädchen, die gern feiern ging und neue Leute kennenlernte. Und bis zu einem gewissen Grad stimmte das auch. Doch in der Klinik lernte ich, dass meine Anspannung und meine Ängste von meiner Kindheit herkamen. Denn meine Mutter hatte mich ja gelehrt, dass ich immer auf der Hut sein musste, mich nicht wehren durfte, nicht wütend sein durfte und nicht weinen durfte. Je mehr Probleme ich auspackte, desto öfter sagte man mir, dass meine Mutter sie zu verschulden hatte. Ein Nervenzusammenbruch war die Folge. Und der Hass gegen meine Mutter kam wieder, dieses Mal stärker denn je. Ich hasste sie dafür, dass sie mir das alles angetan hatte, und ich hasste sie dafür, dass ich es ihr nicht einmal vorwerfen konnte. Schließlich sprach man nicht schlecht über die Toten, richtig?

Irgendwann verließ ich die Klinik, doch die Therapie ging ambulant weiter. Man stellte mir eine Psychiaterin zur Seite. Sie hatte die Eigenart, Dinge so unverblümt auszusprechen, wie es sich sonst keiner trauen würde. Und das machte alles für mich plötzlich so unglaublich einfach. Ich traute mich endlich, meine Gedanken und Gefühle auszusprechen, von denen ich jahrelang dachte, dass ich sie nicht haben durfte. Für meine Psychiaterin und – schließlich auch für mich – war alles so offensichtlich, so klar. Mein widerliches Verhalten gegenüber meinen Freunden war einfach nur ein Resultat dessen, dass es mir nicht erlaubt war negative Gefühle zu Hause auszudrücken. Ich war damals nur ein Kind, das mit der gesamten Situation nicht umgehen konnte. Ja, meine Mutter hätte es verdient gehabt, dass ich mehr Zeit mit ihr verbrachte. Dass ich ihr zeigte, wie sehr ich sie trotz allem wirklich liebte. Doch ich war nun einmal blockiert und verbittert. Jetzt würde ich nichts lieber tun, als noch einmal mit Mama zu sprechen, sie zu umarmen und ihren Duft einzuatmen. Nur, weil ich jetzt verstand, dass mein früheres Handeln erklärbar war, hieß das noch lange nicht, dass ich es nicht bereute. Doch immerhin konnte ich mir selbst verzeihen. Auch dass ich ihren Tod herbeigewünscht habe, war nun für mich mehr als verständlich. Meine Mutter sollte nicht verschwinden, sondern das Leid, das uns alle plagte. Nicht mehr, nicht weniger.

© Anné Murrer 2023-08-25

Genres
Biografien
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Emotional