Dritter Wahn

Isabella Echeverria

von Isabella Echeverria

Story

Ich blickte in Richtung Fenster, über dem Rahmen hing ein mit Ölpastellfarben von ihr gemaltes Bild. Es zeigte ein Laubblatt, das sie damals, so erzählte sie es mir, vor ihrem Schlafzimmerfenster gehalten und mit Leben gefüllt hatte.

Im Gegensatz zur, in blauer Farbe grob und uneben gezeichneten Kontur, verbarg das wirre Innere, bunte etagenartige Zwischenräume. In diesen hatte sie zahlreiche verschiedenfarbige Striche gezeichnet, die, ineinander verschachtelt, eine abstruse und doch in ihrem gänzlichen Sinn für mich nur logische Eigensprache offenbarten. Ich dachte über sie nach, über die letzten Tage, die wir zusammen verbracht hatten.

Wir hatten am Telefon ausgemacht uns in Mainz zu treffen, weder sie noch ich wohnte dort. Ich wartete auf sie am Bahnhof. Wir hatten uns seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.

Sie hatte sich sehr gefreut mich wiederzusehen, ich war sehr nervös gewesen. Sie hatte sich ihre blonden Haare kurz rasiert, ich hatte mein lockiges schwarzes Haar lang wachsen lassen. Äußerlich verband uns nichts außer die Leidenschaft und das Aufleuchten in unseren Augen, wenn wir die Gelegenheit hatten jemandem, einen Blick in unserem Kopf, in unsere Ideen, zu gestatten. Äußerlich verband uns nichts und doch fiel an dem Tag alles an seinem Platz.

Ich hatte ihre Haut unter meiner gespürt, meine Hand war die ihre gewesen, meine Stimme schwebte in ihren Worten. Wir hatten gelacht, wir hatten uns geliebt und uns Tschüs gesagt. Sie brachte mich am nächsten Tag zur Bushaltestelle, sie war glücklich, trotz des Abschiedes, und begann vor lauter Freude zu hüpfen. Ich vergaß jedes Mal, dass sie drei Jahre älter war. Der Bus kam, wir umarmten uns und ich stieg ein. Sie rief mir laut, ich liebe dich, nach. Ich antwortete nicht, weil es mir peinlich war. Ich nahm im Bus Platz und blickte mit Schuldgefühlen aus dem Fenster. Sie hüpfte immer noch, ich lächelte.

Sie lehrte mir das Leben, sie lehrte mir zu lieben. Durch sie verstand ich zu unterscheiden, zwischen der Wandelbarkeit der romantischen und der Unvergänglichkeit der seelischen Liebe. Ich erkannte, dass, in welcher Form, Zeit oder Leben auch immer wir uns begegnet wären, hätte meine Seele sie zu lieben verstanden.

Und möge man jene Verbindung verstehen als Geistesverwandtschaft, Verliebtheit oder Partnerschaft, ich verstand sie viel mehr als eine Liebe zur Natur- das Jede, das Meine und das Ihre.

© Isabella Echeverria 2022-09-01