Drosselgrube

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Flusssignal und Kurvenmuster im Normbereich. Den Rest überfliege ich. Später lass‘ ich mir das für Ärzte typische Fachvokabular auf der Zunge zergehen. Ich oute mich hiermit als erklärter Fan von berufssprachlichem Wortschatz, egal ob dieser technischer, zoologischer oder sonst welcher Natur ist. Medizinisches Kauderwelsch bereitet mir größtes Vergnügen.

Ich entnehme den fünf Zeilen, dass alles in bester Ordnung ist. Im einsehbaren Abschnitt zeigt die Arteria vertebralis einen seitengleichen und orthograden Fluss. Das ist schlichtweg das wunderbarste Satzgebilde, das ich in letzter Zeit schwarz auf weiß gelesen habe.

Die Untersuchung war gleich nach dem Freitesten fürs Haareschneiden. Der Arzt war freundlich. Er bat mich, ich möge mich auf den Rücken legen, den Kopf überstrecken und mich entspannen. Ich schloss die Augen und atmete.

Warum mich der Kardiologe, bei dem ich tags zuvor war, überhaupt zur Carotis-Duplexsonografie geschickt hat, versteh‘ ich nicht, wo doch mein Herz völlig unauffällig war. Er sagte sogar, das EKG sei wunderschön.

Ich lag also auf der Liege und überlegte, wie wahrscheinlich es ist, dass die Wörter „Carotis“ und „Karotte“ dieselbe Wurzel haben. Eine Karotte ist per se eine Wurzel, zu der man im Norden Deutschlands „Möhre“ oder „Mohrrübe“ sagt. Und während sich meine Gedanken im Sprachatlas deutscher Mundarten verirrten, hörte ich plötzlich ein Geräusch, als ob ein kräftiger Wasserschwall aus dem Wasserhahn schösse, dann zum Stillstand käme, und das wiederholte sich mehrmals, wie wenn jemand den Hahn aufdrehen und wieder zudrehen würde, in einem fort. Ich weiß nicht warum, aber plötzlich musste ich lachen. Der Arzt fand das Ganze nicht so lustig. Er gehörte zur schweigsamen und ernsten Sorte. Auch ohne seine Erklärung begriff ich, dass das, was ich gerade hörte, mein Blut war, das durch die Halsschlagader schoss, mit einer phänomenalen Fließgeschwindigkeit, was dann im Befund als „reguläres Flusssignal“ ausdrücklich seinen Niederschlag finden würde.

Während der Arzt die linke Seite meines Halses prüfte, suchten mich wieder Wörter heim. Hals, Kehle, Schlund. Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp‘, zu tauchen in diesen Schlund. Hals über Kopf. Kehlkopf, Adamsapfel, Gurgel, Drossel. König Drosselbart. Halsen und küssen.

Der Hals einer Frau gilt als erogene Zone. Und plötzlich erinnerte ich mich an einen englischen Roman, der mich um ein Wort bereicherte. Ich hab‘ mir unerklärlicherweise gemerkt, dass diese entzückende Mulde am Hals zwischen den zwei Schlüsselbeinen „suprasternal notch“ heißt. Und er ist ganz vernarrt in dieses Grübchen am Hals seiner Geliebten, er ist der Meinung, dass es nicht genug gewürdigt wird, und so erforscht er diese vernachlässigte Stelle mit seinen Lippen und bedenkt sie hingebungsvoll mit Liebkosungen.

Da rollte der Arzt mit dem Stuhl zurück, reichte mir ein saugkräftiges Papiertuch und sagte: Sie können sich jetzt abwischen.

© Sonja M. Winkler 2021-02-13

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