von Svenja Fojut
Ich schlüpfe aus meinen hochhackigen, roségoldenen Schuhen und tapere barfuß auf den Flur. Gerade raffe ich den Stoff meines Kleides zusammen, um die Treppe hochzugehen, als ich das klimpernde Geräusch eines Schlüsselbundes im Schloss unserer Haustür höre. Mein Vater kommt herein, gekleidet in einen grauen Anzug, die Aktentasche fest in der Hand.
„Hi Dad“, begrüße ich ihn und laufe auf ihn zu, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Seine Gesichtszüge sind angespannt. Die zusammengekniffenen Lippen und die roten Pünktchen um seine Nase zeugen von den Strapazen seines Arbeitstags. Erst als ich zurücktrete und er den ersten Blick auf mich und mein Kleid wirft, erhellt sich sein Gesicht.
„Du siehst großartig aus, Clechen!“, sagt er, stellt seine Tasche auf den Boden und hängt sein Jackett über den Treppenpfeiler. Wie oft habe ich diesen Ablauf beobachtet? Tag für Tag, Jahr für Jahr. Aber in wenigen Monaten wird sich das ändern. Sobald meine Bewerbung für ein BWL-Studium in Hamburg angenommen wird und ich von Kiel in die Hansestadt ziehe, werde ich nur noch in Ausnahmefällen da sein, wenn Dad abends heimkommt – und irgendwann gar nicht mehr. „Ich gehe mal in mein Zimmer. Muss mich umziehen“, presse ich hervor. Der Kloß in meinem Hals wird immer größer und droht mir die Luft abzuschnüren. Jede Treppenstufe fällt mir schwer.
Im oberen Stock stechen die knalligen Farben meiner Zimmertür deutlich hervor. Vor einem Jahr war mir ihr tristes Weiß zu langweilig geworden, und so habe ich sie in eine Leinwand meines Lebens verwandelt, auf der ich besondere Momente aufmale – eine kunterbunte Sammlung von Erinnerungen.
Als ich mein Zimmer betrete, streiche ich sanft über die Stelle, die mich mit meinen besten Freunden Mia und Ben zeigt, und mache das Licht an. Ein Strahler der Deckenlampe beleuchtet die vielen Zeichnungen und Collagen an den Wänden und ich wünschte, ich könnte mich so frei fühlen wie das springende Einhorn, das ich einst in der Grundschule gezeichnet habe. Vorsichtig lasse ich das Kleid an meinem Rücken entlang auf den Boden gleiten, hänge es auf einem Bügel an die Außenseite meines Schranks und ziehe mir einen schwarzen Jogginganzug über. Ich schnappe mir mein Handy vom Nachttisch und lasse mich auf meine Bettdecke fallen. Ihr Bezug zeigt die „Caféterrasse am Abend“ von van Gogh und ich bette meinen Kopf auf einen der Tische. Per Face-ID entsperre ich mein Handy. „Kann kaum erwarten, dich zum Ball zu begleiten, und dich in deinem Kleid zu sehen“, blinkt mir eine WhatsApp entgegen. Ich rolle mit den Augen und entscheide, Jens nicht zurückzuschreiben. Ich hätte seine Einladung niemals annehmen dürfen. Das hat alles ins Wanken gebracht! Scrollend suche ich in meinem Nachrichtenverlauf nach den letzten Chats mit Mia und Ben. Zu sehen, dass sie schon zwei Wochen zurückliegen, bricht mir das Herz, und ich kann meine Tränen nicht mehr aufhalten. „Alles wird sich verändern, und ich weiß nicht, ob ich bereit dafür bin!“ Verzweifelt schließe ich die Augen und hoffe, der Welt für zumindest einen kurzen Moment entfliehen zu können.
© Svenja Fojut 2024-08-21