Du musst an einen Gott glauben

Libero

von Libero

Story

Wie schon erwähnt, war ich knapp sechs Jahre alt, als ich zum ersten Mal mit Erziehungseinrichtungen der katholischen Kirche in Kontakt kam. Davor wusste ich nicht, dass es so etwas wie Religion überhaupt gibt und Menschen an einen Gott glauben. Das war mir unbekannt, weil es bis dahin in meinem davon unbehelligten Leben keine Rolle gespielt hatte.

Am Vormittag im Klassenverband gab es in der Vorschule noch keinen Religionsunterricht. Niemand erklärte mir, warum ich beten und immer wieder in die Kirche gehen sollte. Ich kannte die Gebete auch nicht. Im Internat beteten wir vor dem Essen und dem Schlafengehen, gingen regelmäßig zum Gottesdienst und pflegten sonstige dem Kirchenkalender entsprechende Rituale. Beim Zubettgehen musste wir gemeinsam im Schlafsaal mit dem Gesicht zum Kreuz das Vaterunser und das Gegrüßetseistdumaria beten. Von Abend zu Abend konnte ich mir immer mehr davon merken. Letztendlich war es mir möglich mitzubeten, aber verstehen konnte ich davon nichts, absolut garnichts.

Besonders in Erinnerung blieb mir der allfreitägliche Kreuzgang in der Fastenzeit, als ich das gesamte Leid Christi vor seinem Tod quasi am eigenen Leib durchleben musste, ich aber nicht verstand, was das mit mir zu tun hatte. Alle machten selbstverständlich mit, als wäre es das Normalste der Welt, jemandem kollektiv beim Sterben zuzusehen – verstörend, besonders für Kinder!

Vor meiner ersten Beichte in der zweiten Volksschule hatte ich wahnsinnig große Angst. Wir wurden besonders auf den richtigen Ablauf vorbereitet. Meine größte Furcht war deshalb, nicht den richtigen Text an der richtigen Stelle zu sagen. Auch stresste mich, dass ich eigentlich nichts zu beichten hatte. Welche Sünden hat man in diesem Alter schon zu gestehen?

Diese Beichte fand im letzten Stock des Hauses in einer Kapelle statt, an einem Ort, zu dem wir sonst keinen Zutritt hatten. Der Pfarrer in seiner typischen Robe und in seiner vollen Größe gab mir das Gefühl, Gott persönlich würde vor mir erscheinen. Ich war dagegen so klein und nichtig, voller Angst etwas falsch zu machen und sogleich für immer in die Hölle zu kommen.

Der Glaube wurde mir aufgezwungen, indem sie ihn mir ungefragt in den Alltag integrierten. Ich konnte im ersten Jahr nicht zwischen dem realen Leben und den darin gelebten religiösen Ritualen unterscheiden. Es war ein Leben wie auf einem religiösen LSD-Horrortrip.

Das alles war einfach zu früh für mein unbedarftes, kindliches Wesen und niemand fand es der Mühe wert, mich in den Glauben altersgerecht einzuführen. Demgemäß ist es nicht verwunderlich, dass mein Verhältnis zur katholischen Kirche von Anfang an gestört war. Trotzdem sollte sie mich speziell in der Kindheit und in der Jugend bis zur Matura 1993 prägen. Erst dann lies ich die katholischen Erziehungsanstalten hinter mir zurück. Es dauerte jedoch bis ins Jahr 2010, dass ich den Mut aufbrachte aus der Kirche auszutreten, ohne Angst zu verspüren, deshalb in die Hölle zu kommen.

© Libero 2020-07-11

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