von Mia Baghai
Wir kennen uns noch nicht lange – du und ich. Und doch bist du mir vertraut. Verstohlene Blicke, Lächeln, freche Sprüche. Meine Freunde kennen dich. Du und deine letzte Freundin – ihr habt doch gerade erst Schluss gemacht? Und direkt davor, da war doch noch eine andere? Aber du bist witzig, du bist groß und du hast Charme. Charakter. Du kommst zur rechten Zeit und du ziehst mich in deinen Bann.
Und dann: der Kuss. Aber nicht irgendein Kuss, der Kuss, der erste Kuss. Der erste Kuss mit dir, der erste Kuss überhaupt. Wir haben getanzt, nachts um drei. Paartanz, meine Hände auf deinen Schultern. Du hast mich im Kreis gewirbelt und dann haben wir uns gedreht. Viel zu langsam für die schnelle Musik, aber auf die hat eh keiner geachtet. Schummriges Licht, die Tanzfläche schon beinahe leer und unter den Blicken fremder Leute, ist es dann passiert. Du hast mich geküsst. Ich habe dich geküsst? Nein! So etwas würde ich nicht tun, schließlich habe ich noch nie! Du hast mich geküsst und ich habe dich geküsst. Und ich habe nicht gedacht. Nicht gedacht, ob ich es richtig mache, nicht gedacht, wo meine Hände hin sollen. Nicht gedacht, an die anderen Leute in der Bar. Ich habe dich geküsst und du hast mich geküsst. Lange.
Neben uns, zwei erhitzte Gemüter, die sich einen physischen Schlagabtausch lieferten, hast du später erzählt. Aber ich habe nichts gesehen, nichts gehört. Ich habe nur dich geküsst. Meine Hände in deinen Haaren, deine an meiner Taille. Und dann gingen wir. Nicht aufs Zimmer, sondern raus in die Nacht, für eine kurze Abkühlung. Auf Socken im Schnee. Leichte Flocken auf dem Gesicht. Kurzärmelig und doch nicht kalt. Und wir haben uns geküsst.
Hand in Hand dann die Treppe hoch. Wir haben gute Nacht gesagt. Ich in mein Zimmer, du in deins. Und neben den anderen fünf schlafenden Körpern habe ich mich ins Bett gelegt. Kein Bett, sondern das Sofa, auf dem ich geschlafen habe. Leere Chipstüten und Bierdosen auf dem Tisch neben mir. Klamottenberge und Luftschlangen. Und ich habe gegrinst über beide Ohren, denn du hast mich geküsst.
Das war der Anfang. Der Tag danach – Gefühlschaos. Wir haben Karten gespielt, zwischen viel zu engen Sitzen. Dreckige Spiegel, Toilettenschlangen. Geflüsterte Gespräche mit meinem besten Freund. Billige Burger und Salzstangen. Verstohlene Blicke zu dir. Und ich habe kein Auge zugetan.
Und dann waren wir zu Hause. Und jetzt? Ungewissheit. Ich habe gewartet, aber würdest du schreiben? Und du hast geschrieben und wir haben uns getroffen. Und es war so gut. Lachen. Champagnerfrühstück – und du trinkst beide. Stundenlang geredet und du bist mit mir nach Hause gelaufen. Die ganzen 40 Minuten, obwohl du in die andere Richtung musstest. Und wir haben uns geküsst. Lange. Und du warst witzig, und du warst groß und du hattest Charme. Charakter. Und es war gut. Lange war es gut.
Und dann bist du fort. Das war der Anfang vom Ende. Oder war es schon das Ende vom Schluss?
© Mia Baghai 2024-07-03