# Dunkelbunt

Vincent Weiß

von Vincent Weiß

Story

„Schaut, der blinde Junge“ hörte man im Menschengetümmel.

Die ganze Stadt sprach über uns, weshalb wir kurz vor meinem 1. Geburtstag die Stadt verließen. 1500 Kilometer brausten wir mit Papas Rostlaube die Serpentinen hinunter, bis wir uns in der Abenddämmerung von Marokko auf das sandige Grundstück von Papas Schwester Anna, mit dem letzten Tropfen Benzin, bewegten. Festlich gekleidet und ungeduldig erwartete sie uns auf der Marmor verfließten Terrasse.

„Destino, schön, dass du da bist“, flüsterte sie mir entgegen und drückte sich an mich, sodass ich ihre Freudentränen förmlich spüren konnte. Ich dagegen kann sie bis heute nicht leiden, obwohl ich sie noch nie gesehen habe.

Die nächsten 15 Jahre verbrachte ich bei Anna, da mein Vater wortwörtlich von der Bildfläche verschwand. Von dieser Zeit gibt es nichts Erwähnenswertes zu erzählen. Eintönig wiederholte sich Tag für Tag & Jahr für Jahr. Mein Highlight war der monatliche Augenarzttermin, bis plötzlich ganz unerwartet samstagabends die Türglocke erklang. Dingdong.

Ein sportlich gekleideter Mann stand mir gegenüber und blickte mir (vermutlich) tief in die Augen. Einige Sekunden vergingen, bis ich meinen Namen hörte: “Destino!”, sprach die verrauchte Stimme zu mir. Bevor ich irgendetwas sagen konnte, tauchte Anna komplett ungehalten auf und riss mich aus der Türschwelle, während sie Papa (den ich am Geruch erkannt habe) herab würdigte. Zwei Stunden hörte man die beiden zanken.

Anschließend saß ich mit ihm schockartig beisammen, wo er kopflos versuchte, einen Draht zu mir zu finden. Seine Bemühungen blieben vergeblich, worauf ich ihn bat zu gehen. Mit Tränen in den Augen erhob er sich von seinem Stuhl, legte eine orangefarbene Karte auf meinen Schoß und verabschiedete sich mit einem hoffnungsvollen „Auf Wiedersehen“ „ Mein Sohn“!

Eine ganze Woche verging und es wurde kein Wort zwischen mir und Anna über den unerwarteten Besuch gesprochen. Dann fiel ihr die herausstechende Karte ins Auge und las sie ungebeten laut vor. Amadi Fruits GmbH und eine Telefonnummer waren aufgedruckt. Niemals hätte ich gedacht, diese Telefonnummer je zu wählen, aber als Tante Anna bei einem Hangrutsch aus dem Leben gerissen wurde, blieb mir keine andere Wahl.

Kaum zu glauben, zog ich am 1. April 2017 wieder zu meinem Finder nach Valencia. Dass dies mein 16. Geburtstag war, wusste er garnicht mehr, stattdessen sagte er ganz stolz: „Sieh dir meinen neuen Wagen an!“ Daraufhin fühlte ich meinen Namen. Schicksal, dachte ich laut und wir betraten seinen Obsthandel Amadi Fruits.

Innerlich fing ich an zu blühen, als mir der zitronenartige Duft sanft über die Nasenflügel schlich. Eine Tür öffnete sich. Eine schlanke Italienerin kam heraus und ich realisierte, dass der Zitrusgeruch vom WC stammte. Ein gedämpftes Plätschern begleitete die Szene, bis der Spülkasten wieder voll war.

Es war Liebe auf den ersten B̵l̵i̵c̵k̵.

© Vincent Weiß 2022-04-03

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