Dunkelgrau

Julie

von Julie

Story

Sie drückte so fest zu, dass sich ihre winzigen Fingernägel in meiner Haut wie Pikser feiner Nadelspitzen anfühlten. Noch fester wurde ihr Griff um meine beiden Finger der rechten Hand, als ich meine hockende Position ihr gegenüber aus Gründen zunehmender Anstrengung geringfügig veränderte. „Du bist nicht allein“, flüsterte ich dem vierjährigen Mädchen auf Französisch zu, doch mein angedeutetes Lächeln verstarb, noch bevor ich es vollends aufsetzen konnte. Ich bereute meine Worte… Worte, die ich in meiner Unbeholfenheit nicht besser zu wählen verstand. Ihre braunen, großen Augen, so klar und weit, als wären sie ein Tor zur afrikanischen Steppe, fixierten prüfend meinen Blick. Sie verstand mich und sie wusste sehr wohl, dass sie alleine war.

Sie hungerte nach einem Vater einer Mutter und nach Nahrung.

„Willkommen im Kongo“, sagte ich mir wie ein Mantra vor, um mir bewusst zu machen, dass ich in einem Land angekommen war, wo andere (Natur)-Gesetze, eine andere Normalität und ein völlig mir fremdes Bewusstsein von Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Menschenrecht existierte als in meiner Heimat. Die hier herrschenden juristischen Normen waren, nach meiner Wahrnehmung, so trivial wie brutal – gesteuert vom Kapitalismus. Ein Stück Papierfetzen mit einer Zahl darauf entschied mehrfach über Leben und Tod, auch über das Leben der kleinen Charla. Da kam mir das an mich persönlich adressierte Schreiben der österreichischen Botschaft in Nairobi wieder in den Sinn, in welchem ich ausdrücklich vor dieser Reise gewarnt wurde, mit dem Hinweis, dass selbst ihnen aufgrund der kritischen Sicherheitslage in der DR Kongo sowie der vorherrschenden Korruption im Ernstfall die Hände gebunden wären mir zu helfen. Wie beruhigend – aber gut zu wissen, dass man ehrlich aufgeklärt wurde, wenn man darum bat.

Weiß war im Kongo ein anderes Wort für reich. Das hatte ich nun gelernt, jedoch noch nicht begriffen.

Plötzlich saßen wir wieder in unserem Hochsicherheitsvehikel. Zentralverrieglung rein, Fenster hoch, Augen zu, Gedanken aus.

Bis zu jenem Tag, an dem ich die kleine Charla traf, bewegte sich meine Welt in den mir bekannten Bahnen und ich war nicht versucht, diese aus Gründen mangelnder Sicherheiten oder einer bewusst gefühlten Ungerechtigkeit grob zu hinterfragen. Eingebettet in die wattierte, österreichische Komfortzone, wurde ich mental und emotional zu träge, einen Blick hinter die Kulissen des mir bekannten Lebens zu werfen.

Bald würde ich wieder in mein durchschnittliches Leben zurückkehren, in welches ich ohne mein Zutun, schlichtweg aus purem Glück, geboren wurde. Wo ich im Vergleich zu Charla einen überdurchschnittlichen Luxus genießen durfte und sich jemand nach mir erkundigte, weil ich in einem System existierte, in welchem ich namentlich aufschien.

Charla hat diese Chance verpasst. Vorerst.

© Julie 2022-08-28