Durchfall Marmelade

Bine

von Bine

Story

Freitag 14 00 Uhr. In diesem Fasching ohne Programm. Die allermeisten Veranstaltungen finden nicht statt heuer. Wir wollen Krapfen backen. Mehl und Fett sind da. Eier gibt’s in der Lade am Bauernhof, Zuckervorräte reichen für 5 Faschingsjahre.

Im Hintergrund laufen die Nachrichten.

Gefüllt wird mit Nougatcreme und Marillenmarmelade. Von ersterer ist immer nur ein Glas im Haus. Egal wie viele am Anfang der Woche hier wären, am Samstag müsste nachgekauft werden. Von der Marmelade stehen mehrere Gläser im Vorratsregal, selbst eingekocht vom Opa, selbst eingekauft vom Papa, in 5 Sorten und 3 unterschiedlichen Süßegraden.

Den gestrigen Anruf aus der Schule, Kind4 würde aus Angst vor dem Dritten Weltkrieg weinend bei der Schulärztin sitzen, haben wir noch nicht verdaut. Im Radio sagen sie, dass sich Männer bis 60 bewaffnen sollen, um in den Krieg zu ziehen. “Papa ist erst 50”, höre ich sie noch schluchzen. Am Vorabend konnten wir beruhigen, haben das erzählt, was auch Erwachsene sich erzählen. Es wäre weit weg und er würde bestimmt nicht.

Wie muss es sich für Eltern anfühlen, die diese Karte nicht spielen können? Weil sie vor Ort sind.

Als ich vor dem Kellerregal stehe, die vielen unterschiedlich großen Marmeladengläser vor mir, fällt mir Opa ein. Mein eigener Großvater. Er war damals dort, wo jetzt wieder geschossen wird. Vor 70 Jahren, für viele Monate. Erzählt hat er nie davon, uns Kindern schon gar nicht. Einmal traute ich mich zu fragen, ob er denn auch einen Menschen erschossen hätte. Das erhoffte Nein war nicht gekommen. Auch nichts anderes. Nur ein Gemurmel davon, dass wir nicht verstehen würden.

Später am Tag hat er mich zu sich gerufen: “Eine Geschichte will ich dir erzählen”. Als der Krieg schon lange vorbei war, saß er mit vielen anderen in russischer Gefangenschaft. Essen gab es kaum, etwas hartes Brot und Brei, dazu Wasser. Heute fällt mir auf, dass er nicht erzählt hat, wie er in den Jahren dort seine Tage verbracht hat. Ob er hart arbeiten musste, gefoltert wurde, einfach die Zeit absaß, ich weiß es nicht.

Eines Tages wurden sie befreit. Einfach so. Auch das wird vielleicht nur in seiner Geschichte für mich einfach gewesen sein. Da war diese Frau mit dem Topf voller frischer Marmelade. Er aß davon, wie viel er kriegen konnte. Seit Jahren die erste süße Mahlzeit. Sie schmeckte so unbeschreiblich gut. „Nichts, was wir heute und hier kaufen können, die besten Konditor Schnitten und die erlesensten Pralinen, nichts hat jemals wieder so gut geschmeckt wie diese dunkelblaue Beerenmarmelade“, schwärmte er fast wehmütig. Dass er die ersten Tage in Freiheit mit einem heftigen Durchfall hinter irgendwelchen Büschen verbrachte, war der Genuss wert gewesen.

Wir backen Krapfen. Wir füllen sie mit Marillenmarmelade. Dabei denken wir an die Eltern und ihre Kinder überall auf der Welt, wo abgesagte Faschingsfeiern heute das kleinste aller Probleme sind.

Foto Patrick Pahlke https://unsplash.com

© Bine 2022-02-25

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