Durchs Nadelöhr der NATO

Heinz-Dieter Brandt

von Heinz-Dieter Brandt

Story

Ein wenig mulmig war mir schon zumute, als ich mich auf der Via Baltica dem Suwalki-Korridor näherte.

Die Via Baltica (E 67) ist die längste Fernverkehrsstraße Nordeuropas und verbindet auf 1700 km die Städte Prag, Breslau und Warschau über Lazdijai, Kaunas, Riga und Tallinn mit Helsinki (Fähre). Als „Baltisch-Westfälischer Weg“ ist er der nördlichste Teil des Jakobswegenetzes – eine Brücke von den baltischen Ländern nach Santiago de Compostela in Spanien. Eine Reise auf dieser Route bleibt im Gedächtnis: Herrliche Idylle und die intensive Geschichte der alten Hansestädte prägen den Weg.

Und dann stehe ich am „Korridor“, es ist eher eine Lücke und ich staune über die Gemächlichkeit der Menschen, die hier leben. Eine Frau wartet an der Bushaltestelle, weiter hinten dreht ein Mähdrescher seine Runden, Störche füttern ihre schon recht großen Jungen – sie brauchen noch Masse, der Abflug in den Süden steht bevor. Ich spreche einen Rentner an, der gerade seine Hecke schneidet: „Wir spüren hier schon die Spannungen und machen uns auch Sorgen, was in der Ukraine passiert, aber unsere Geschichte war schon immer wechselhaft – wir müssen alles nehmen, wie es kommt“, sagt er und arbeitet fast gelangweilt weiter an seiner Hecke.

Das litauisch-polnische Grenzgebiet gehört zu den strukturschwachen Regionen beider Länder und ist beiderseits der Grenze dünn besiedelt. Przesmyk suwalski (Suwalki-Korridor oder Suwalki-Lücke) bezeichnet in der NATO-Terminologie das Gebiet um die litauisch-polnische Grenze, eine schmale Landverbindung, ein Flaschenhals, der einerseits die baltischen Staaten von den übrigen NATO-Partnern (also in erster Linie Polen) und andererseits die russische Exklave Kaliningrad von Weißrussland trennt. Derzeit – im Jahr 2023 – wahrscheinlich der „gefährlichste Ort der Welt“.

Sie erstreckt sich über 104 km vom Dreiländereck Litauen-Polen-Weißrussland im Südosten bis zum Dreiländereck Litauen-Polen-Russland (Kaliningrad) im Nordwesten. Die Grenze folgt teilweise dem stark mäandrierenden Flusslauf der Marycha. Mehrere Straßen verbinden Polen und Litauen durch diesen Korridor, die wichtigste ist die Via Baltica. Die einzige Eisenbahnverbindung ist die normalspurige Strecke Suwałki-Kaunas als Teil des Eisenbahnprojekts Rail Baltica.

Die Region um den Suwalki-Korridor gilt – insbesondere seit der Annexion der Krim 2014 – als eine der militärisch sensibelsten in Europa. Im Falle eines möglichen militärischen Konflikts mit NATO-Staaten könnten Russland und Weißrussland das Gebiet innerhalb weniger Tage oder gar Stunden besetzen, um die baltischen Staaten vom Landweg zum NATO-Partner Polen und vom Nachschub abzuschneiden. Vergleiche mit dem Fulda Gap zu Zeiten des Kalten Krieges drängen sich auf. Mit dem Beitritt Finnlands zur NATO und dem geplanten Beitritt Schwedens hat sich jedoch die Sicherheit der Balten erhöht und der Druck auf den Korridor verringert.

Auffallend ist jedoch der Ausbau der Infrastruktur. Die Autobahnen auf litauischer Seite werden stark ausgebaut, verlaufen teilweise kilometerlang schnurgerade und scheinen als Ausweichflugplätze gedacht zu sein.

© Heinz-Dieter Brandt 2023-08-19

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Reise
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