von Malte Leyhausen
Mein Vater und ich wurden in Düsseldorf geboren. Mit dreißig Jahren Abstand. Meinen Eltern wurde in aller Herrgottsfrühe die Türe des Krankenhauses nicht geöffnet, weil die Nachtwache schlief. So schlüpfte ich vor der Tür in den schönen Mantel meiner Mutter, der danach nicht mehr zu gebrauchen war. Mit sechs zogen wir auf die andere Rheinseite nach Neuss. Aber die Firma meines Vaters blieb in Düsseldorf und meine Großeltern, Onkel und Tanten auch. Dazu gehörte der sprichwörtliche Onkel Otto, der mit dem Zollstock einen Meter Bier bestellte. Als Putzer und Stuckateur verputzte er die Wände mit beiden Händen gleichzeitig. Mein Vater sagte oft, Otto hat nach dem Krieg so gut verdient, dass ihm die ganze Flingerstraße gehören könnte. Onkel Otto konnte auch zaubern, singen und Gitarre spielen. Mit siebzehn ließ mein Vater meinen ersten Gedichtband setzen und drucken und verschenkte ihn an seine Kunden. Ein Exemplar geriet in die Hände von Onkel Otto, der sonst keine Lyrik las. Das erste Gedicht stellte den Ärger über das falsch gekochte Frühstücksei dem Elend der Welt gegenüber. Das trieb Onkel Otto die Tränen in die Augen und er sagte auf Düsseldorfer Platt, Jung, du vertrittst jenau ming Meinung. Denn sein Herz schlug links.
Mein Vater fuhr auch samstags in seine Firma. Ich ließ mich oft von ihm mit nach Düsseldorf nehmen, um meine Oma zu besuchen. Dann lief im Autoradio WDR 2 oder es ertönten Kassetten von Rod Stewart, Simon and Garfunkel und Cat Stevens. Auf die großen Flitzer meines Vaters waren meine Freunde neidisch. Wer hatte schon einen Papa, der einen schnittigen BMW fuhr oder einen goldenen Mercedes? Manfred war auch einer der ersten, der über ein Autotelefon verfügte. Handys waren noch nicht erfunden. Als eine Frau mit ihrem Wagen eine Panne hatte, hielt er sofort und bot ihr sein Telefon an. Sie klingelte bei ihrem Freund durch, um zu berichten, dass sie mitten auf der Autobahn liegen geblieben wäre. Der Freund fragte, von wo telefonierst du eigentlich? Und sie sagte, von irgend so einem Mann mit Autoradio …
Auf dem Weg zu meiner Oma stoppten wir bei der Hauptpost, wo Manfreds Briefe schon viel früher im Postfach lagen, als wenn der Postbote sie gebracht hätte. Bei meiner Oma durfte ich viel mehr fernsehen als Zuhause. Es gab nur ARD und ZDF und das dritte Programm sendete erst abends. Deshalb spielten wir auch viel Rommé und Canasta. Einmal sagte mein Vater, du hast bei der Oma bestimmt wieder nichts anderes gemacht als ferngesehen! Es herrschte bis in die 1980er Jahre die Sorge, dass ein bis zwei Stunden fernsehen am Wochenende zur totalen Verblödung von Kindern und Jugendlichen führen würde. Eine Medienzeit, von der die Eltern von heute nicht zu träumen wagen.
Im Gegensatz zum provinziellen Neuss erschien mir Düsseldorf auch als die Stadt der hohen Kultur, als Heimat von Heinrich Heine, vom weißen Schauspielhaus, das aussah wie eine verrutschte Torte, vom Kabarett Kom(m)ödchen, in dem ich den blutjungen Harald Schmidt mit Hugo Egon Balder auf der Bühne sah. Und auch immer wieder den großen Kleinkünstler Hanns Dieter Hüsch. Auf so einer Kabarettbühne wollte ich auch bejubelt werden. Zwanzig Jahre später war es so weit.
© Malte Leyhausen 2024-10-09