Die Buchlesung neigte sich dem Ende zu, als der Autor das letzte Kapitel seines Buches vorlas: „Wenn Wege sich trennen.“
Florentine erstarrte. Wieso ausgerechnet dieses Thema? War das ein Zeichen? Sollte sie Schritt für Schritt auf die Trennung vorbereitet werden? Sie kämpfte gegen die Wahrheit an, die sie nicht akzeptieren wollte. Immer wieder betete sie zu Gott, flehte um einen Hinweis – gab es noch Hoffnung? Doch alles sprach dagegen. Der Autor fuhr fort:
„Oft erkennen wir den Wert eines Moments erst, wenn er vorbei ist. Die letzten Male, die wir erleben, begreifen wir oft erst in der Erinnerung.“
Florentine spürte, wie sich eine Lawine auf sie zurollte. War es das Leben, das ihr unmissverständlich zeigte, dass das Ende unausweichlich war? Es fühlte sich an, als stünde sie vor einer roten Ampel – doch sie wollte sie nicht sehen. Für sie gab es nur Grün: Sicherheit, Beständigkeit, keine Veränderung. Die Lesung endete.
Mit ihrer Freundin stellte sie sich für ein Autogramm an, lächelte für ein Foto mit dem Autor – eine Maske, die sie für die Außenwelt aufsetzte. Friedrich würde es sehen. Als sie nach Hause kam, war es 23 Uhr. Friedrich saß im Wohnzimmer und schaute fern. Noch nutzten sie dieselbe Küche, dasselbe Bad. Noch war er da. Vielleicht bedeutete das etwas? Vielleicht doch keine Trennung? Sie saßen am Küchentisch, als er ernst zu ihr sagte: „Florentine, ich muss mit dir reden.“
„Ich will nicht hören, was du zu sagen hast.“ „Doch, das musst du. Ich will die Trennung. Den Eheberater möchte ich auch nicht mehr sehen. Dein Verhalten in den letzten Wochen hat mich nur darin bestärkt.“ Florentine stockte der Atem.„Was? Aber Friedrich! Wir hatten doch Hoffnung! Wir haben es noch nicht einmal richtig versucht!“ Ihre Stimme zitterte.„Wie kann ich dir egal sein? Siehst du nicht, dass ich um uns kämpfe?“
Er sah sie ruhig an. „Florentine, du rennst mir hinterher, bedrängst mich. Ich wollte eine Auszeit – du hast sie nicht respektiert.“ Sie fühlte sich wie eine Schülerin, die von ihrem Lehrer gemaßregelt wurde. Ihre Welt begann zu bröckeln. „Nein! Das kann nicht sein!“ Florentine weinte. Sie konnte sich nicht beruhigen. Sie wollte nicht akzeptieren, dass nach zwanzig Jahren nichts mehr übrig war. Friedrich seufzte. „Soll ich dir einen Arzt rufen? Such dir lieber Hilfe, Florentine.“ Das war der Moment, in dem sie zusammenbrach. Und dann tat er etwas, das sie nie vergessen würde: Er nahm ein Glas Wasser – und schüttete es ihr über den Kopf. Sekundenlang herrschte Stille. Florentine war wie erstarrt.
Das hat er nicht getan…
Sie starrte ihn fassungslos an. Er hatte sie gedemĂĽtigt.
Ein Mann, der seine Frau liebte, hätte das nicht getan.
Ein bitteres Gefühl kroch in ihr hoch – Wut, Scham, Angst.
© Christine_Bernstein 2025-04-02