von Cornelia Hell
Sarah hätte nicht überraschter sein können, hätte sie ihn nach so vielen Jahren auf der Straße getroffen. Die Nachricht war im Spamordner ihrer Facebook-Nachrichtenbox gelandet, weshalb sie diese nicht gleich gelesen hatte. Zwei Jahrzehnte waren vergangen, seit sie sich an einem heißen Nachmittag im Juli kennengelernt hatten; sie war siebzehn gewesen, er einundzwanzig. Jener Sommer, der letzte vor ihrer Matura war verheißungsvoll gewesen. Alex und sie waren stundenlang mit dem Auto durch die Gegend gefahren, hatten an Seeufern gegrillt, mit Erlaubnis ihrer Mutter sogar gezeltet.
So verging jener unschuldige Sommer wie im Flug, die Zeit rieselte durch ihre Finger wie Sand. Nach intensiven Monaten war schließlich auch ihr letztes Schuljahr vorbei; noch einmal wollte sie ganz frei sein, ehe sie für ihr Studium von Salzburg nach Wien zog. So wie es sein sollte – ein schön gerader, vorgezeichneter Weg. Alex und sie fuhren mit seinem Auto für drei Wochen nach Litauen, auch um ihre Familie zu besuchen, vor allem aber, um das Land ein wenig zu entdecken. Schließlich wagte er am Ende ihrer Reise, einige Tage vor ihrer Rückfahrt, einen sanften Vorstoß und küsste sie während eines Morgenspazierganges an der Ostsee. Schüchtern erwiderte sie seine Annäherung, ließ sich von ihm führen. Doch sie war ihm dankbar, dass er sie nie zum letzten Schritt drängte, wohl spürend, dass sie noch nicht bereit war. Die nachfolgenden Wochen, bis es schließlich Zeit war, den Zug nach Wien zu nehmen, verflogen rasch; die Bilder jener Wochen verließen Sarah nie. Doch er hatte sie gewarnt, er hatte immer Angst davor zu bleiben, wenn es ernst wurde; vielleicht wollte er auch deshalb den letzten, körperlichen Schritt nicht gehen. Es war ein bewölkter, schwüler Montag, als Sarah am Bahnsteig wartete; ihre Mutter und ihr Vater waren mit ihrem Gepäck mit dem Auto gefahren, sie wollte zusammen mit Alex den Zug nehmen. Doch auch kurz vor Abfahrt des Zuges erreichte sie nur seine Mailbox; wenige Tage später nur noch die Ansage, dass unter dem Anschluss kein Teilnehmer bekannt sei.
Sarah war zugegebenermaßen erstaunt darüber, wie sehr sie sich über seine Nachricht freute. Sie telefonierten in den nächsten Wochen viele Male per Video über Whatsapp, lachten viel, sprachen stundenlang über sein Leben in Rom, ihres in Wien, nur nicht über jene Wochen vor zwanzig Jahren. Sie hatten sich beide verändert, natürlich, die Jahre gingen an niemandem spurlos vorbei. Doch eines schien sich nicht geändert zu haben – er wirkte noch immer rastlos, haltlos. Auch wenn sie keine Erklärung bekam – er deutete an, dass es seit zwanzig Jahren niemanden länger als eine Nacht an seiner Seite gab.
Es war ein verregneter, kalter Herbstabend, als sie wieder für ein Telefonat verabredet waren. Doch als Sarah zum Telefon griff, wusste sie schon, dass niemand abheben würde.
© Cornelia Hell 2023-11-24