von Julia Bergdolt
Seit wir in New York angekommen sind, zieht es mich immer wieder zurück zu dieser einen Ecke. Die Stadt ist riesig, aber egal wohin wir gehen, am Ende komme ich immer hierher zurück. Der Ort ist total unscheinbar und frei von Touristen in „I love NYC“ T-Shirts, die überall sonst über die Stadt herfallen. Es ist der Eingang zu einer Bibliothek. Kein riesiges Gebäude, nur ein süßes Häuschen, das wirkt, als wäre es einer Kleinstadt entrissen und ins große New York geschoben worden.
Neugierig drücke ich die goldene Türschnalle nach unten und trete ein.
Der Raum ist größer als es von außen aussieht und riecht nach Büchern. Ich schließe die Augen und sauge das Gefühl dieser ganzen Geschichten in mir auf. Deshalb liebe ich Bibliotheken so. Sie sind so voller Erzählungen. Hinter jedem Buchdeckel befindet sich eine Geschichte, in die man eintauchen kann.
Plötzlich schwebt ein Gedankenfetzen durch meinen Kopf, den ich festhalte, bis er sich nicht mehr wehrt und bei mir bleibt.
Das beste Buch der Welt. Mit einem Mal verspüre ich den Drang, danach zu suchen. Ich bewege mich zwischen den Regalen hin und her, den Blick auf die Buchrücken geheftet, in der Hoffnung, irgendwas würde mich anspringen. Eine Verbindung, die ich zu dem Buch fühlen würde. Aber ich verliere mich zwischen den Regalen und irgendwann auch in den Worten, die die Erzählungen füllen. Manchmal greife ich mit freudiger Erwartung nach einem Buch, das einzigartig scheint und sich optisch von allen Anderen abhebt. Aber wenn ich es aufschlage, dann wird mir klar, dass das Aussehen auch nur eine Fassade ist, hinter der der sich die gleichen gewöhnlichen Wörter befinden, wie in allen Anderen.
Schließlich gebe ich auf, steuere auf die Bibliothekarin zu und frage sie einfach nach dem besten Buch der Welt. Sie schaut mich erstaunt an, aber entgegen meiner Erwartung belächelt sie meine Frage nicht. Schließlich ist mir schon klar, dass man von jedem, dem man die Frage stellt eine andere Antwort bekommt. Das beste Buch der Welt gibt es nicht. Finden will ich es trotzdem.
Einen Augenblick lang lässt die Frau am Tresen die Augen auf mir ruhen, bevor sie mich zielstrebig in den hinteren Teil der Bücherei führt. Hier sind die Bände mit einer dicken Staubschicht überzogen und es wirkt, als hätte sich schon länger niemand angehört, was sie zu erzählen haben.
Sie greift nach einem Exemplar ganz unten, das mit seinem schwarzen schlichten Einband mit dem staubigen dunklen Regal zu verschmelzen scheint und sich zu verstecken versucht. Trotzdem verspüre ich ein Funken Aufregung, genau da, wo mein Herz schlägt, als sie es mir überreicht. Kein Name, kein Autor, nur Schwärze leuchtet mir auf dem Cover entgegen. Und dann stehe ich am Tisch, schiebe das Buch zu Bibliothekarin rüber und sage: „Das möchte ich gerne ausleihen“. Denn ausleihen heißt zurückbringen. Es heißt zurückkommen, nach New York an diesen Ort. Es ist ein leises Versprechen, dass ich wiederkomme, auch wenn der Sommer irgendwann vorbei ist.
© Julia Bergdolt 2022-08-07