von Radnomadin
Acheron ist in der Mythologie einer der dreitausend Söhne und Töchter des Okeanos und der Tethys. Außerdem ist er einer der fünf Flüsse der Unterwelt.
Odysseus stieg für ein Meeting mit dem verstorbenen blinden Seher Teiresias von hier aus in diese Totenwelt herab. Teiresias war laut Mythologie übrigens der einzige, der seinen Verstand mit in den Hades nehmen durfte. Ich nehme aber an, dass Odysseus der zweite war. Hoffentlich bin ich die dritte!
Neben dem Styx brachte Charon mit seiner Fähre die toten Seelen auch hier am Acheron in den Hades. Für die Fahrt gab man den Toten eine Sesterze ins Grab mit, damit sie Charon bezahlen konnten.
Charon hat sich aber bereits zurückgezogen, sein Geschäftsmodell entspricht nicht mehr dem Zeitgeist. Rafting, Flying Fox, Pony Riding & Co. ziehen die Massen an, auch wenn der Gegenwert von einer Sesterze vielleicht wirklich noch ein Schnäppchen für eine Fahrt im Kahn wäre. Ich nehme jedenfalls die geplanten zwei Münzen für Charon (Hin- und Rückfahrt) gar nicht mit, sondern wandere völlig kostenlos und einsam in die fantastische Schlucht. (Die kostenpflichtigen Aktivitäten finden offensichtlich flussabwärts statt). Schon nach einem Kilometer ist kein Platz mehr für den Weg, und ich wate zwischen beeindruckenden Felsen im bis zu brusthohen Wasser. Aus jedem winzigen Felsritz sprudelt eine Quelle hervor. Stellten sich die Griechen so den Eingang zum Tod vor? Eine attraktive Variante! Gerne würde ich länger hier in der Grenzregion verweilen. Da ich mich im frischen Fließwasser aber nur schwerlich gemütlich hinlegen kann und es sonst keine waagrechten trockenen Flächen gibt, kehre ich irgendwann flussabwärts schwimmend zurück. Die Acheron Springs landen unter den Top Ten meiner schönsten Plätze dieser Welt!
Meine reizenden Gastgeberinnen, Panagiotis und ihre Mutter Christina, verwöhnen mich in ihrem direkt am Fluss liegenden Restaurant mit frischer Forelle, kühlem Weißwein und herzlichen Küssen, bis ich im letzten Dämmerlicht die zwei Kilometer zu meiner Unterkunft zurück radle.
Am nächsten Tag serviert mir Christina ein königliches Frühstück mit einem frisch gelegten Ei der eigenen Henne. Allerdings ungekocht. Vor Schreck fällt sie bei meiner fragenden Reklamation fast um und bringt ein gekochtes Ei. “Ah, this is the hot one! Is it too hot?”. Ist es nicht. Schmeckt wunderbar, ebenso wie der eigene Honig, den ich zum Joghurt bekomme.
Zum Abschied umarmen und küssen wir uns. In Griechenland küsst man zweimal, aber ich habe den Eindruck, die linke Wange kommt zuerst dran.
In den relativ kühlen Morgenstunden geht es gleich auf einer idyllischen einsamen Straße in die Berge. Jasmin und Ginster betören mich mit ihren Düften. Friedlich weidende Kühe und Ziegen mit bimmelnden Glocken muten fast heimatlich an. Eine Meute bellender Hirtenhunde weniger. Immerhin wedeln sie mit dem Schwanz und machen keine Anstalten eine einsame Radlerin in die Wadeln zu beißen.
© Radnomadin 2019-04-11