von M_S_Haurowitz
Jede Woche während der Reha freue ich mich auf die Einheit „Kreatives Schreiben“. In kleinen Übungen sollen wir hier zu Reizwörtern Texte entstehen lassen- und es wundert einen immer wieder, was an noch nicht in Worte gekleideten Gedanken in einem schlummert. Es ist diese Übung nicht für alle Patienten einfach- so viele tun sich sowohl in der Retrospektive als auch in der Vorschau schwer- sie haben weder mit ihrer Vergangenheit einen Abschluss gefunden, noch können sie positive Gedanken für die Zukunft kreieren.
Heute bekamen wir eine knackige Aufgabe: wir sollten uns einen Brief aus der Zukunft schreiben- sprich für 20 Minuten sind wir 80 Jahre alt und schreiben dem 2020- Ich eine Nachricht, in meinem Fall aus dem Jahr 2066. Begleitet vom „fabelhafte Welt der Amelie-Soundtrack „My Traveling Piano““ ist dies eine Übung, die mich tief bewegt. Wann macht man dies schon: sich einfach mal so 50 Jahre in die Zukunft versetzen und sein Leben künstlich in der Vergangenheitsform betrachten? So eine Übung zwingt einen dazu, sich tief- jedoch dennoch in sehr kurzer Zeit, mit seinen Wünschen zu beschäftigen, und vor allem mit der Frage: Was ist mir wirklich wichtig, bis dorthin erreicht zu haben- seien es die Big Four, Five oder Six im Leben. Nachdem ich bereits in den letzten Wochen versucht habe, mir meine Wunschvorstellungen für die Zukunft zu erarbeiten und diese möglich realitätsnah zu visualisieren, strömt es geradezu aus mir raus, und die 20 angesetzten Minuten vergehen wie im Flug:
Liebes 34-jähriges Ich,
ich schreibe dir, um mich von ganzem Herzen bei dir zu bedanken. Dafür, dass du die Weichen gestellt hast für das was ich heute bin. Ich bin gesund- du hast die Verhaltensweisen, die dich und deinen Körper früher so geschädigt haben abgestellt, auch wenn dies eine tägliche Überwindung bedeutet hat. Jahrelanger Raubbau ließ sich nicht so einfach abstellen, doch du hast es geschafft. Ich lebe mit Nina tatsächlich in dem Haus mitten in der Natur, von dem du träumst. Ich besitze sogar wirklich den Pool und den Oldtimer-Park, den du dir so lebhaft ausmalst. Und dafür musste ich gar nicht so wahnsinnig schwer schuften- du hast mir beigebracht, dass die Balance im Leben zählt und nicht nur der Aspekt der persönlichen Selbstaufgabe und des Fleißes. Besonders freut es mich, dass ich meine erworbene Erfahrung an junge Menschen in deinem Alter freiwillig weitergeben kann- nichts ist für mich wertvoller. Du fragst dich vielleicht – wie hat sich der Weg gestaltet? Was waren die Highlights auf deinem Weg? Nun was wäre das für ein Leben, wenn ich dir das alles im Detail erzählen würde? Natürlich gibt es immer Hochs und Tiefs, doch ich habe es immer so gehalten wie du es für mich entschieden hast: ich konzentriere mich auf die Hochs und lasse die Tiefs vorbeiziehen, denn Dunkelheit für immer gibt es nicht.
So, jetzt muss ich aber los, denn Nina und ich bekommen Besuch von Eddy und seiner Familie. Das wird ein Herrliches Grillfest!
Lg,
dein 80 jähriges Ich
© M_S_Haurowitz 2020-07-27