von Philipp Müller
Der Boden war noch aufgeweicht vom nächtlichen Regen, als Ihka die Hütte verließ. Sie schüttelte ihre Finger, um sie etwas beweglicher zu machen und fasste dann in den Korb, den sie mit sich trug. Ihre Finger berührten das weiche Holz mit den engmaschigen Rillen und hoben es leicht an, um die filigranen Einkerbungen an den Seiten zu ertasten. An einer Stelle konnte sie noch etwas von der Rinde spüren, die sich entlang einer Wölbung nach oben bog. Sachte legte sie den Gegenstand in seine Ausgangsposition zurück und deckte ihn mit einem Tuch ab. Der Weg zu ihrer Großmutter war nicht weit, aber es war noch sehr früh am Morgen, da sonderbare Träume ihren Schlaf frühzeitig beendet hatten. Aber sie war gerne wach, wenn die Sonne noch hinterm Horizont schlief und genoss die Ruhe, die kühle Luft und das Surren der Insekten. Dann sind manche Tierchen wieder wach und andere noch. Und so hielt sich der Tag noch bedeckt, als Ihka im Morgengrauen wandernd das vertraute Glimmen in der Ferne vernahm; es war das Feuer im Dorf ihrer Oma. Indes lag die Umgebung noch im Dämmerschlaf. Eine rotbraune Eidechse hatte eines ihrer Augen geöffnet und beobachtete das riesenhafte Wesen, dass die Dreistigkeit besaß, so früh über sie hinweg zu stapfen. Ikhas Schritte verschreckten auch eine Gruppe Ameisen, die sich unter einen Stein verkrochen hatte, und so tapste sie durch den kühlen Matsch, vorbei an einem Wasserloch, und stand schon bald vor einer großen, strohbedeckten Hütte. Zwei lange Speere waren an die Hüttenwand angelehnt und warteten auf ihre Besitzer, während zwei herrenlose Hühner vorbeiwackelten. Sie wusste, dass auch ihre Oma Frühaufsteherin war und klopfte am Eingang gegen die Wand. In der Hütte war ein Rascheln zu hören und einen Moment später schob sich ein grimmig dreinblickender Kopf aus dem Dunkel der Hütte. Ein Paar zugekniffener Augen musterte den Überraschungsgast. Beim Anblick des Mädchens machte sich ein triumphierendes Lächeln auf dem Gesicht der alten Frau breit, wobei sich die Faltenpartien um ihre Augen nicht merklich verzogen. “Ein Kätzchen hat sich in mein Dorf verirrt! Möchte das Kätzchen ein Schälchen Milch?” Ihka sprang auf ihre Großmutter zu und umarmte sie. Sie deutete Ihka an ihr in die Hütte zu folgen. Das Mädchen setzte sich auf eine Decke und wärmte ihre von der morgendlichen Frischluft ausgekühlten Füße, während ihre Großmutter murmelte: “Du hast wie immer ganz schmutzige Füße. Bist du in ein Wasserloch gefallen oder hat es heute Nacht geregnet?” Sie reichte Ikha ein Tuch, mit dem sie ihre Füße etwas abreiben konnte und fragte dann: “Was hast du eigentlich in deinem Korb, den du mitgenommen hast?” Ihka griff unter das Tuch und zog eine etwa handgroße Figur heraus. Ihre Oma atmete betont tief aus und begutachte das kleine Holzkunstwerk ihrer Enkelin von allen Seiten. “Bin das ich?”, fragte sie und Ihka nickte. Die Figur war aus einem knorrigen Stück Holz geschnitzt, von dem vier Ästchen abstanden, welche die Arme und Beine bildeten. Am Kopf hatte Ihka ein Stück Rinde übriggelassen, welches das Haar der Figur bildete. An den Seiten waren dünne Rillen eingeritzt, die das Kleid ihrer Oma darstellen sollten. Sie sah wieder zu Ihka: “Sehr hübsch! Du hast deine Oma wirklich gut getroffen. Mein Rücken fühlt sich tatsächlich so steif an wie ein Stock. Nur sah ich schon lange nicht mehr so wohlgenährt aus.” Ihka betrachte zufrieden ihre Oma.
© Philipp Müller 2023-08-23