Ich weiß nicht viel über meine Großtante Anna. Sie war die älteste von drei Schwestern. Geboren in einem burgenländischen Dorf am Neusiedler See. Nach der Pflichtschule kam sie nach Wien. Sie arbeitete in einem bürgerlichen Haushalt als Dienstmädchen.
Das war damals üblich, dass die Mädchen vom Land in die nahe gelegene Hauptstadt kamen, um sich dort als Fabrikarbeiterin oder Dienstmädchen ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Eine höhere Bildung war für das weibliche Geschlecht nicht vorgesehen. Gab es in einer Familie einen Buben und ein Mädchen, so wurde von vornherein entschieden, dass der Sohn studieren durfte. Das Mädchen würde ohnehin heiraten und durch die Ehe finanziell versorgt werden, so der dahinter liegende Gedanke.
So war es auch bei Anna. Sie lernte einen jungen Mann kennen. Er arbeitete in einer Apotheke. Sie heirateten und bewohnten dann eine kleine Wohnung im 10. Wiener Gemeindebezirk in der Hasengasse. Es war eine kleine Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung. Toilette auf dem Gang, kein Badezimmer.
Anna blieb zu Hause. Wurde Hausfrau und Mutter. Ihr Mann verdiente genug Geld, um die Familie ernähren zu können.
Eine Tochter wurde geboren, später ein Sohn. Die perfekte kleine Familie. Es gibt ein Foto davon. Auch ein Hochzeitsfoto existiert. Ob sie gerne Hausfrau und Mutter war, kann ich nicht sagen. Aber man erzählte mir, dass sie in der Küche während des Kochens immer ein Buch gelesen habe und dass ihr Mann die Familie oft allein ließ und sich mit anderen Frauen vergnügte.
Dann kam der Krieg. In den letzten Monaten vor Kriegsende wurde ihr geliebter Sohn einberufen. Er war 17 Jahre alt, besuchte eine Höhere Schule und stand vor der Matura. Ein junger Mann mit glänzenden Zukunftsaussichten. Freude und ganzer Stolz seiner Mutter.
Walter kam nicht mehr zurück. Vermisst. Jahrelang suchte sie nach ihm in der Hoffnung auf ein glückliches Wiedersehen, das nie erfolgte.
Ich lernte meine Großtante erst kennen, als ich elf Jahre alt war. Unter Tränen erzählte sie mir von ihrem verlorenen Sohn. Sie war inzwischen Witwe geworden. Ihre Tochter hatte nach Deutschland geheiratet.
Die Wohnung in der Hasengasse wurde aufgelassen. Ihre Tochter nahm sie mit nach Deutschland.
Sie hatten kein besonderes gutes Verhältnis. Anna trauerte bis an ihr Lebensende um ihren verlorenen Sohn. Ihre Tochter hat sie wohl etwas vernachlässigt.
Im 87. Lebensjahr starb sie.
© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2020-11-14