Mein Vater war von September 1944 bis April 1945 als Stabssoldat einer Panzerjägerabteilung im Küstenverteidigungsabschnitt IV „Ligurien“ in der Villa Fiorentina in San Remo einquartiert. Über diese Zeit erzählte er nicht viel und nur eine Postkarte mit einem Foto der Villa und ein Brief an meine spätere Mutter fand ich in seinem „Kriegsnachlass“. Erst sehr viel später erfuhr ich von Verbrechen der SS und einiger Wehrmachtsverbände an Zivilisten in Norditalien und begann nachzuforschen. Ich stieß auf eine Homepage von Personen aus San Remo, die sich mit der Geschichte der Stadt befassten. So lernte ich im August 2021 Roberto kennen, der mir seine Hilfe anbot, mehr über die Villa und die damalige Besatzungszeit in Erfahrung zu bringen. Wir kommunizierten über E-Mail und WhatsApp und benutzten Übersetzungshilfen von Italienisch auf Deutsch und umgekehrt. Er erzählte mir über seine Zeit als Blumenhändler und dass er dadurch auch einige Orte in Deutschland bereist und gute Bekanntschaften gemacht hätte. Seine Tochter würde für eine deutsche Firma arbeiten und sehr gut Deutsch sprechen. Roberto sendete mir viele Informationen zu meinem Anliegen. Es stellte sich heraus, dass der Vater von Roberto mit den Partisanen im Widerstand gegen die deutschen Besatzer kämpfte, die wiederum aus Rache für getötete Soldaten Zivilisten in den Bergdörfern exekutieren ließen. Mein Vater war damals 22 und Robertos Vater 27 Jahre alt. Wir arbeiteten diese Tatsache auf und bemerkten, dass wir sehr viele Gemeinsamkeiten hatten und unsere Interessen an Geopolitik, Schreiben, Lesen, Sport und der Natur ließen uns langsam aber sicher als Seelenverwandte erkennen. Was Roberto besonders auszeichnete: Er konnte hervorragende Videos über seine Stadt und deren Geschichte anfertigen und etliche davon sind auf YouTube zu sehen. Auch ein Video über die prächtigen Villen in der Corso degli Inglesi, in dem auch die Villa Fiorentina zu sehen ist, hatte er veröffentlicht. Roberto war schon in Rente und er schrieb mir, dass ich ihn unbedingt in seiner Stadt besuchen müsste. Ich schrieb zurück, dass ich im Mai 2022 in Pension gehen und dann das Angebot gerne annehmen würde. Regelmäßig schrieben wir uns, diskutierten die Welt- und Innenpolitik unserer Länder, wie die Zukunft Europas aussehen könnte und hofften, dass die Pandemie bald vorbei sein würde. Aber es kam anders. Am 12. Dezember schrieb er mir, dass er hohes Fieber bekommen hätte und vorsichtshalber ins Krankenhaus ginge. Drei Tage später meldete er sich morgens über WhatsApp, dass er positiv auf Corona getestet und eine Lungenentzündung diagnostiziert wurde. Noch am selben Abend um 21h38 kam die letzte Nachricht von Roberto: Er bedankte sich für meine Genesungswünsche und dass er sich demnächst wieder melden würde, wenn es ihm wieder besser ginge. Roberto meldete sich nicht mehr. Wie ich Tage später über Facebook von seiner Tochter erfuhr, verstarb er am 21.12.2021 auf der Intensivstation im Krankenhaus San Remo. Ich konnte es nicht fassen. Doch das Leben geht immer weiter. Mit seiner Tochter stehe ich seitdem in Kontakt und sie versprach mir, bei meinen Nachforschungen zur Villa Fiorentina weiterzuhelfen. Irgendwann werde ich dann nach San Remo fahren und Blumen im Garten der Villa zum Gedenken an die von deutschen Soldaten ermordeten Zivilisten niederlegen. Das habe ich meinem Vater an seinem Grab versprochen, auch wenn er nicht aktiv an den Erschießungen beteiligt war, aber er musste davon gewusst haben.
© Wolfgang-Arnold Müller 2024-06-30