Ein ganz betörender Duft

Dagmar Lücke-Neumann

von Dagmar Lücke-Neumann

Story

Ein herzhafter, meine Geschmacksknospen kitzelnder Geruch strömt uns entgegen, als wir die Haustür ins Schloss fallen lassen. Er kommt unbestritten aus unserer Wohnung. Hat die Babysitterin unseren Kindern nicht nur vorgelesen, sondern etwas in der Pfanne gezaubert? Gedanklich stelle ich mir den Rest davon vor, den ich gleich mit einem Spiegelei krönen könnte. Mit einer sauren Gurke würde es ein köstlicher, fast mitternächtlicher Imbiss für uns werden.

Der Schlüssel in der Tür hat sie aufgeschreckt. Mit einem um Verständnis bittenden Blick steht sie vor uns. Meine sich kräuselnde Nase, die den in der Wohnung hängenden Zwiebelduft inhaliert, scheint die Hüterin unserer Kinder ein wenig zu beruhigen.

„Ihre zwei Kleinen haben mir gezeigt, wie man Zwiebelsäckchen herstellt!“ erklärt sie lächelnd. Sie habe nicht gewusst, dass Zwiebeln eine heilende Wirkung haben.

Das junge Mädchen schildert uns den Verlauf des Abends. Während wir in die Welt der Oper entrückt sind und bei Nessun dorma in Puccinis Turandot dahin schmelzen, spürt unser Sohn urplötzlich Ohrenschmerzen. Unter seiner und der Assistenz seiner gleichaltrigen Schwester pellt die junge Frau Zwiebeln, hackt diese klein, gibt sie in ein Mull-Tuch, das ihr aus einer Schublade gereicht wird und erwärmt das Ganze in der Pfanne. Beide Kinder sind mit meiner Behandlungsart vertraut. Sie wissen, was ihnen hilft.

Ich mag nicht bei jedem Pups mit kleinen Kindern das Wartezimmer eines Kinderarztes bevölkern. Mithilfe eines Buches, das mir während der gesamten Kindheit unserer Zwei ein treuer Begleiter ist, fühle ich mich wie eine Kinderkrankenschwester im Nebenberuf. Die im Buch beschriebenen Symptome zu allen gängigen Kinderkrankheiten und die jeweils empfohlenen Hausmittel geben mir die notwendige Sicherheit. So manche Hausmittel, seien es die Zwiebelsäckchen fürs Ohr oder ein Quark-Wickel bei starkem Husten, lindern die Symptome. Der Arzt kann im schlimmsten Fall immer noch hinzugezogen werden. Unser Kinderarzt, der auch Allgemeinmediziner ist, findet das großartig und schätzt meine Haltung. Zu oft werden kleine Patienten in die Praxis gebracht, denen ein wenig Ruhe und Schlaf zu Hause schon geholfen hätten.

Die durch die Erwärmung hervorgetretenen ätherischen Öle der Zwiebel wirken sich schmerzlindernd und beruhigend aus. Mit dem Zwiebelsäckchen auf dem betroffenen Ohr, von einem Wollschal um den Kopf gehalten, liegt unser Sohn in seinem Bett. Behütet durch den ruhigen Atem des Bruders schläft seine Schwester wohlig eingelullt im Bett daneben.

Der Anblick der schlafenden Kinder erfüllt mich mit Freude und Dankbarkeit. Auch wenn der jungen Frau Zwiebelsäckchen als Heilmittel bisher gänzlich unbekannt waren, hat sie genau das Richtige getan. Ob sie sich an dieses Erlebnis erinnert und heute selbst nach Hausmitteln greift?

© Dagmar Lücke-Neumann 2022-06-02

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