Ein ganzes Leben später / Mairegen

Stefan Reitbauer

von Stefan Reitbauer

Story

Die ersten Regentropfen ziehen ihre Umlaufbahnen auf dem Wasser. Wir biegen in den Uferweg ein und machen uns auf, den Teich nahe dem Schloss zu umrunden. Da sehen wir sie. Stumm und unbewegt auf der Parkbank. Würdevoll. Die Heiligen Drei Könige. Am 6. Mai, also immerhin ganze vier Monate zu spät. Mit ausdruckslosen Gesichtern sitzen sie da und starren uns an, folgen mit ihren umschminkten Augen unseren stockenden Schritten. Als gäbe es da etwas zu sehen.

In der Wohnung angekommen, sind die Haare nun wieder einigermaßen trocken. Ich lege durchaus Wert darauf, alle Jahre zumindest einige Tropfen Regen im Frühling abzubekommen. Die Legende sagt dem Mairegen ja eine wundersame wachstumsfördernde Wirkung nach. Nicht, dass ich es nötig hätte, zumal ich mit meiner Körpergröße recht zufrieden bin. Allerdings ist es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass man im höheren Alter womöglich einige Zentimeter durch natürliches Schrumpfen einbüßen könnte. Also Prophylaxe.

Sie hat es sich mittlerweile auf der Couch gemütlich gemacht. Zwei Gläser stehen in Griffnähe bereit. Einige Kerzen durchdringen das tiefe Rot des Weines und ihre Lichter mäandern in unzähligen Farbtönen zurück in die einsetzende Nacht. Wir reden über Gott und seine Welten. Über die, die uns seit einiger Zeit verbindet und jene beiden, die dem Ich zu eigen sind und sich noch nicht berühren. Wie unsere Körper, die einander an diesem Abend umkreisen. Ankämpfend gegen die Fliehkräfte des Lebens. Gegen die Angst vor dem Danach.

Und doch entfaltet der Wein nun langsam seine Wirkung, beschwert die Lider und bringt unsere wohlbehüteten Geister ans Licht. Man muss nicht länger tapfer sein. Sie rollt sich ein und zieht mit der grünen Wolldecke auch die schließlich nur noch papierene Wand zwischen uns hinweg, um sie wärmend über sich auszubreiten.

Unsere Hände finden sich. Unvermittelt. Mein linker Zeigefinger trifft in einem Winkel von annähernd 45 Grad auf den ihren. Zwei Zentimeter unterhalb der Fingerkuppe an der Handinnenseite berühre ich sie zum ersten Mal als Mann. Nur langsam, behutsam und ganz leise erspüren wir uns. Ein zweiter Finger. Die Handflächen. Ihre Haut ist weich und zart gezeichnet wie die Maserung feinsten Holzes. Sie streicht über mein Handgelenk. Die Zeit beschließt in diesem Augenblick, ihr Fortschreiten ruhend zu stellen. Ein ganzes Leben später schlafen wir ein.

Am nächsten Morgen trete ich hinaus auf den Balkon. Sie schläft noch tief und fest. Nur ein paar ausgeschlafene Amseln sind aus den nahen frisch belaubten Bäumen zu hören. Ein Lied liegt mir auf den Lippen. Noch wagt es sich nicht in die hörbare Welt. Es hat wieder zu regnen begonnen. Ich mache einen Schritt zur Brüstung und fühle die kühlen Tropfen auf dem Gesicht. Mairegen, lass uns wachsen! Mein Blick fällt hinunter zur Straße. Ich habe sie bereits erwartet. Sie kommen von Osten. Würdevoll. Und schweigend.

© Stefan Reitbauer 2020-09-06