“Ein Jahr ohne Juli”

Daniela Simlinger

von Daniela Simlinger

Story

Als ich klein war, las ich unendlich viele Bücher. Ich las so viele Bücher, dass man meinen Lesekonsum schon fast als krankhaft bezeichnen konnte. Gerne tauchte ich immer wieder in die fremden Welten ein, schlüpfte in die unterschiedlichsten Rollen und erlebte mit ihnen die verschiedensten Geschichten. Wenn ich ein Buch schon mehrmals gelesen hatte, zog ich es auch unter anderem vor, die Beobachterrolle einzunehmen. Als Beobachter versuchte ich auch die Gegenpositionen zu verstehen. Manchmal passierte es, dass ich nach dem häufigen Wiederlesen der Geschichte sogar die Gegenposition mehr mochte, obwohl ich diese zuerst noch so verabscheute. Was ich damit sagen möchte: Ich las sehr viel und die meisten Bücher, die mir gefielen, las ich öfter. Manchmal auch sooft, dass ich sogar Seiten überspringen konnte, weil sie mir in meinen Kopf so eingebrannt waren, dass ich sie schon auswendig kannte.

Als ich ungefähr 12 Jahre alt war, bekam ich ein Buch von meinen Eltern geschenkt. Dieses Buch war das einzige, das ich nur einmal gelesen hatte, obwohl ich es eine lange Zeit mein Lieblingsbuch nannte. Ich kann mich heute noch an jede Einzelheit aus diesem Roman erinnern. Ich kann mich heute noch an jedes Gefühl, das ich während des Lesens empfand – vor allem an den so greifbaren Schmerz – erinnern. Ich kann mich erinnern, dass ich die letzten Seiten dieses Buches, in der Hoffnung, dass es gut ausgehen würde, im Stehen gelesen hatte, weil ich vor Anspannung nicht mehr sitzen konnte. Ich kann mich erinnern, wie ich vor Verzweiflung und Mitgefühl anfing zu weinen, weil ich Angst hatte, dass es die Protagonistin nicht mehr schaffen würde, alles klarzustellen. Und ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mir so fest auf meine Unterlippe gebissen hatte, dass mir meine Zähne danach wehtaten. Ich weiß noch, wie meine Mutter recht besorgt war, weil ich, nachdem das Buch zu Ende war, so verstört und fertig war.

Nach diesem Buch las ich eine lange Zeit nichts mehr. Ich wollte kein neues Buch mehr beginnen, weil ich auf der einen Seite nicht noch einmal so stark für etwas Fiktionales, nicht Reales empfinden wollte – im Allgemeinen nicht mehr so stark Verzweiflung und Angst spüren wollte – und zum anderen auch keine ‚schlechtere‘ Geschichte mehr erzählt bekommen wollte, da ich auf eine ganz spezielle Weise diese Art zu Empfinden doch genossen hatte.

Natürlich habe ich nach einer Weile wieder das Lesen begonnen und ich glaube, ich hätte mich heute echt gehasst, hätte ich das nicht getan. Ich hatte das Lesen wieder begonnen, aber stets mit der Angst, etwas ‚Schlechteres‘ zu lesen, jedoch auch immer mit der Vorsicht, nie wieder so stark beim Lesen zu fühlen, dass es mich selbst ‚schädigt‘. Seitdem hatte ich nie wieder so stark empfunden, dass ich danach eine lange Zeit nichts mehr lesen konnte. Irgendwie wünsche ich mir, dass wieder einmal ein Buch kommt, das mich so einnehmen wird, jedoch weiß ich nicht, ob ich das noch einmal verkraften werde.

© Daniela Simlinger 2021-11-10

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