Mein kleiner Sohn zeigt auf den Mond und sagt “luna”. Der Mond fasziniert ihn. Die Geschichte vom Kleinen Häwelmann hat es ihm angetan. Dieser kleine Bub, der nicht schlafen will. Der sich im Kinderbettchen auf die Reise macht und nach mehr schreit. Bis der Mond das Licht ausmacht und das Kind am Ende ins Meer fällt: „Und dann, Mama?” Paul Philipp und ich sprechen über die mögliche Rettung des kleinen Häwelmann. Alles geschieht in unserer Sprache. Wo hat er “luna” aufgeschnappt? Eine Freundin meint, er ist ein kleiner Poet. Poeten haben immer einen besonderen Wortschatz.
Der kleine Poet ist ein zurückhaltendes, verträumtes Kind, das sich keinem aufdrängt. Er beobachtet viel, sieht Dinge, die sich uns oft nicht gleich erschließen. Für Freundschaften zu anderen Jungen lässt er sich Zeit. Er braucht sie nicht, weil er eine Zwillingsschwester hat. Die beiden sind sich sehr nah. Ideenreich spielen sie miteinander. Sie werden mit Geschichten groß.
Zu Beginn des 6. Schuljahres plant die Klassenlehrerin mit den Kindern ein Theaterstück. Dafür hat sie einen Teil des Inhalts von Victor Hugos “Les Miserablés” in Dialogform gebracht. Sie stellt den Kindern die Geschichte und die zu spielenden Rollen vor. Mein Sohn meldet sich nicht, weil er zu schüchtern ist. Der Wunsch, die Hauptrolle zu übernehmen, wächst. Er möchte den Jean Valjean auf der Bühne spielen. Als er mir davon erzählt, ermuntere ich ihn dazu, die Lehrerin am nächsten Tag nach dem Unterricht einmal um ein Gespräch zu bitten.
Er traut sich. Weil sie die Ernsthaftigkeit spürt, bittet die Lehrerin unseren Sohn und die betreffenden Mitschüler um eine gemeinsame Lösung. Im Gespräch entscheidet sich ein Schüler, die Rolle freizugeben und einen anderen Part im Stück zu übernehmen. Als ich davon erfahre, bin ich sehr froh. Etwas später suche ich das Gespräch und bedanke mich für so viel Feingefühl.
In der Aula der Schule können ungefähr Tausend Personen Platz nehmen. Kein Platz bleibt frei. Das Stück wird von musizierenden Schülern eröffnet. Ein paar Kinder singen dazu. Dann erscheint Jean Valjean. Gebannt folgen wir dem Spiel. Als der ehemalige Galeerenhäftling etwas später mit einem kleinen blonden Mädchen an der Hand die Bühne verlässt und mit ihr durch den mittleren Gang der Aula an uns vorbeigeht, ist es um mich geschehen. Zärtlich und sanft spricht er zu ihr. Sie hat gerade ihre Mutter verloren und muss getröstet werden. Mein Sohn ist so sehr in seiner Rolle verhaftet, dass er das Publikum und seine Eltern nicht wahrnimmt. Mir laufen Tränen über das Gesicht.
© Dagmar Lücke-Neumann 2022-05-11