Ein langes Leben für das Buch

Wer in die Welt der Hanse eintauchen will, sollte den teuren ICE meiden. Der Interregio Express Berlin-Hamburg eignet sich dafür besser. Die Route führt durch die Lüneburger Heide und die Altmark. Das Ticket ist billiger und die Fahrt fast genauso schnell.

Auf halber Strecke liegt die Hansestadt Salzwedel. Bei der Einfahrt streift der Blick eine Werbeschrift für einen Baumkuchenhersteller. Mit diesem Gebäck werben auch andere Orte. Aber Salzwedel ohne Baumkuchen wäre etwa so wie Dresden ohne Stollen oder Lübeck ohne Marzipan.

Der Weg zur Altstadt führt am Discounter neben dem Busbahnhof vorbei. Den Rest des Weges weisen wie in Hansestädten üblich die Kirchtürme.

Einen Kilometer weiter hat der Besucher eine im gotischen Stil gebaute Backsteinkirche gesehen. Auch eine Reihe Fachwerkhäuser wurden abgehakt. Am Ende der Straße steuere ich rechts auf den alten Rathausturm zu. Ich besuche die Tourismus-Info und frage nach interessanten Sehenswürdigkeiten für Neulinge.

„Hmm. Unser neustes Highlight ist das Kunsthaus in dieser Straße. Leider sind dort noch die Handwerker und die Eröffnung lässt auf sich warten. Aber gehen Sie mal zur Buchhandlung von Frau Weyhe. Helga Weyhe ist mit 93 Jahren die älteste aktive Buchhändlerin Deutschlands. Und sie ist das wandelnde Archiv dieser Stadt. Ehrenbürgerin ist sie außerdem.“

Wenig später stehe vor dem Schaufenster der Buchhandlung. An der Scheibe hängen Zettel mit Sinnsprüchen und Zitaten, allesamt amüsant und lesenswert. Ich betrete das Geschäft und schaue mich um. Der Ladenraum ist aus einer anderen Zeit. Von der Decke hängt ein Weihnachtsstern, ganzjährig wie ich später erfahre. An der Wand ein Straßenschild aus New York, wo ihr Onkel eine Galerie betrieben hat.

Nach einer Weile tritt Frau Weyhe aus einem Hinterzimmer in den Laden. Sie hat gerade Buchbestellungen von Stammkunden bearbeitet. Unser kurzes Gespräch wird unterbrochen, als ein älteres Ehepaar den Raum betritt. Die beiden suchen ein Geschenk für die Enkeltochter. Frau Weyhe fragt nach dem Alter des Kindes und seinen Interessen. Schnell ist ein passendes Buch gefunden. Für sich selbst suchen die Großeltern auch Lesestoff. Frau Weyhe empfiehlt ihnen einen Titel, den ich gerade in der Hand halte. Ich mische mich in das Gespräch ein und lobe das Buch in höchsten Tönen. Ein weiteres Exemplar gibt es gerade nicht. Ich reiche das Buch an die neuen Abnehmer weiter. Am Ende liegen drei Bücher an der Kasse. Die Kunden verlassen zufrieden den Laden. Ich finde Ersatz in der Antiquariatskiste. Ein Buch über den DDR-Motorroller Simson hat es mir angetan.

Helga Weyhe wurde 1922 in diesem Haus geboren. 1945 trat sie als Buchhändlerin in das väterliche Geschäft ein und übernahm es zwanzig Jahre später. 75 Jahre lang verkauft sie Bücher abseits der Bestsellerlisten. Nachkommen hat sie nicht. Im Januar 2021 stirb Helga Weyhe mit 98 Jahren in ihrem Geburtshaus. Bücher verkauft hat sie bis zuletzt.