Ein Leben in Scherben (Teil 3)

Yasmin Nimsay

von Yasmin Nimsay

Story

Im Vergleich dazu kommt mir mein eigener Liebeskummer wie eine Kleinigkeit vor. „Das tut mir sehr leid. In diesem Fall ist es bestimmt nicht einfach, die Scherben wieder zusammenzusetzen.“ Vorsichtig blicke ich zu dem Mann hinüber. Er sieht traurig aus, trotzdem schmunzelt er leicht. „Da haben Sie Recht, diesmal fällt es mir besonders schwer. Aber dadurch, dass mir der Abschied so schwer fällt, weiß ich auch, dass eine sehr wertvolle Zeit hinter mir liegt. Ich habe die Erfahrung gemacht, einen Menschen mit ganzem Herzen zu lieben. Wenn ich ihm in die Augen gesehen habe, war ich vollkommen verletzlich. Er hat mich genauso angenommen und akzeptiert, wie ich bin und das hat mir die Möglichkeit gegeben, die purste Form meiner selbst zu sein. Neben ihm aufzuwachen war alles, was ich brauchte, um glücklich in den Tag zu starten. Und auch wenn es den Rest meines Lebens dauern wird, um die Scherben, die sein Tod verursacht hat, wieder zusammenzusetzen, so bin ich doch täglich dankbar für jeden Moment, den ich mit ihm verbringen durfte. Ich bin dankbar dafür, erfahren zu haben, was wahre Liebe ist. Viele Menschen sterben, ohne jemals richtig geliebt zu haben. Und das halte ich für eine wahre Tragödie. Jede Narbe, die mich durch den Verlust meines Mannes zeichnet, werde ich mit Stolz tragen, wie eine Kintsugi-Vase den goldenen Kleber eben.“ Seine Lebensphilosophie scheint dem Mann viel zu bedeuten und ihm tatsächlich Kraft zu geben. Es muss sich gut anfühlen, mit einer solchen Überzeugung und Sicherheit durchs Leben zu gehen. „Danke, dass Sie mir das alles erzählen. Ich bewundere Ihre Resilienz.“ Der Herr beugt sich vor und hebt seinen Rucksack auf, der vor ihm auf dem Boden liegt. Er öffnet den Reißverschluss und kramt darin herum. Dann holt er etwas heraus, das etwa faustgroß ist und in braunes Papier gewickelt ist. „Das hier möchte ich Ihnen schenken. Eigentlich wollte ich sie meinem Mann ans Grab stellen, doch ich glaube, Sie können sie besser gebrauchen.“ Behutsam wickele ich das Papier ab und entdeckte eine kleine Vase darin. Ihr begrenztes Volumen bietet wahrscheinlich höchstens für ein paar Gänseblümchen Platz. Die Vase ist schimmernd weiß mit filigranen blauen Mustern drauf und ist überall von goldenen Kleberändern durchsetzt. Ich lasse meine Finger über die Vase gleiten und sehe sie mir ganz genau an. Sie ist wunderschön und ich glaube zu verstehen, was der Mann meint. Die goldenen Ränder verleihen ihr einen speziellen Charakter und eine besondere Schönheit. Am liebsten würde ich sie wirklich behalten, doch ein solches Geschenk kann ich von einem Fremden doch nicht annehmen. Als ich mich umdrehe, um dem Mann die Vase zurückzugeben, ist er verschwunden. Ich sehe nach links und rechts, doch kann ihn im flackernden Laternenlicht nirgendwo erkennen. Ich blicke auf die Vase in meiner Hand und spüre plötzlich, wie sich ein warmes Gefühl in meinem Inneren ausbreitet, das ich seit Langem nicht mehr gespürt habe. Es ist das tröstende Gefühl der Hoffnung.



© Yasmin Nimsay 2024-12-11

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend, Traurig