von Karla Tanguay
Es gibt Momente, da weiß ich nicht, was das ist – ein Leben. Das Leben hat verschiedene Bedeutungen und ich habe einige von ihnen kennengelernt. Ich habe das Leben schon aus vollen Zügen getrunken, bis mir ganz schwindelig wurde und dieses Jahr habe ich über Monate gewartet, bis genug Leben sich ansammelt, um einen Tropfen zu bilden, den ich mit dem Mund auffangen kann. Da hieß das Leben: Überleben.
Ich habe bereits überlebt, durchlebt und erlebt. Man kann sich sogar auseinander leben, auch das habe ich schon gelebt. Kann man sich auch verleben? Was, wenn ich mich seit meiner Kindheit aus Versehen verlebt habe und ich eigentlich einen anderen Weg gehen soll? Oder kann sich auch aufleben? Ableben? Vorleben? Nachleben? Zerleben? Unterleben?
Das Leben ist mir oft nicht ganz geheuer und noch immer frage ich mich, was ich mit meinem verregneten Leben anstellen soll. Dabei freue ich mich so über die Leben meiner Freunde und Freundinnen, meiner Familie und der kleinen Spatzen vor meinem Fenster. Um diese Leben schätzen zu können, muss ich auch leben. Ich glaube, das Boot, auf dem ich durch das Leben treibe, schaukelt heftiger, als die anderen Boote, die ich von meinem Leben aus sehen kann. Und trotzdem bin ich noch nicht untergegangen, auch wenn ich noch ganz nass bin, vom Anfang des Jahres, als ich über Bord gefallen bin. Aber hier stehe ich, auf meinem klitschnassen Deck des Lebens, auf dem ich endlich wieder auf beiden Beinen stehen kann. Jetzt, da ich stehen kann, kann ich auch die Aussicht genießen und sehe links und rechts die Boote der anderen konstant den Kurs halten. Es beruhigt mich, dass sie nicht so sehr schaukeln, wie meins. Dann kann ich mich an etwas festhalten, wenn einem schwindelig ist, soll man einen festen Punkt in der Ferne anschauen und das kann ich jetzt, von hier aus.
Vielleicht muss ich noch gar nicht wissen, was das Leben genau ist, ich habe ja noch ein ganzes Stück vor mir. Auch wenn ich schon zwanzig Jahre lebe, muss ich mich noch nicht festgelegt haben. Und festgelebt sowieso nicht. Dieses Jahr habe ich gelernt, dass man auch mitten im Leben ein Neues anfangen kann. Und wie Schuhe, die man erst einlaufen muss, muss man sich im Leben manchmal einfach nochmal einleben.
Das Leben ist im Regen sitzen und nass getropft werden, es sind geduckte Gedanken und schwere Kastanienblätter. Es sind auch verschwommene Erinnerungen, nackte und bunte Körper und Kopfsprünge in den September.
Meine nasse Kleidung ziehe ich aus und ich setze mich ganz nach vorn, dass meine Beine über den Bootsrand baumeln. Links und rechts, vor und hinter mir treiben die Boote meiner Mitmenschen. Und mein Boot kommt nach dem Frühjahresturm wieder ins Gleichgewicht und fühlt sich irgendwie widerstandsfähiger an, als vorher. Ich muss ein bisschen lächeln, es ist schon schön gerade. Vertragen wir uns wieder, mein liebes kleines Leben?
© Karla Tanguay 2022-08-29