Ein Mann weniger Worte

Philipp Walden

von Philipp Walden

Story

„UH!“ Ein Mann scheucht seine Ziege von seinen Kohlköpfen weg. Er ergreift sie an den Hörnern und schmeißt ihren Kopf regelrecht hinfort. Es knurrt hinter ihm – ein Wolf fletscht seine Zähne. Doch dessen Blick ist nicht auf den halbnackten Mann fixiert, sondern auf die Ziege dahinter. Der Mann baut sich vor dem Wolf auf und brüllt kräftig. Unter dem Lederfetzen, den er um seinen Körper geschlungen trägt, holt er zudem ein blutiges Stück Fleisch hervor, das er dem Wolf vor die Schnauze wirft. Damit kehrt Ruhe ein. „Hmpf.“

Der Mann hockt sich auf den Boden und fährt fort, einen gleichmäßig ausgehöhlten Baumstamm zu betrachten. Zum Teil liegt er am Flussufer, halb treibt er auf dem Fluss; gleich davor – ein Paddel-ähnlicher Stock. Der Mann lugt jenseits des Stammes auf den breiten Fluss hinaus und kratzt sich am Kopf. Auf der anderen Flussseite war er noch nicht. Er dreht sich um. Dort war er schon. Er dreht sich zurück zum Fluss. Dort war er noch nicht. Er sieht zum hohlen Stamm, blickt aufs Wasser, wieder auf den Stamm, wieder aufs Wasser. Er schiebt den Stamm auf den Fluss hinaus. Dieser schwimmt, stabil.

Der Mann sieht zum Stamm, dann auf das andere Ufer. Er dreht sich um, blickt zur Ziege, zum Wolf, zum Kohl, dann auf den Stamm. Mit seinem Arm drückt er den Stamm hinunter. Beinahe läuft er mit Wasser über. Der Mann sieht am eigenen Körper hinab, dann zum Kohl. Er lädt den Kohl in den Stamm und setzt sich hinein. Kaum sitzt er drinnen, knurrt der Wolf, der sich gierig der Ziege nähert. Der Mann springt aus dem Stamm und stellt sich dazwischen. „Hmpf.“ Er lädt den Kohl wieder aus und versucht, den Wolf ins Wasser zu zerren – er hört ein Knabbern. Die Ziege vergnügt sich an einem der Kohlköpfe. „UH!“ Er lässt den Wolf los, setzt sich mit der Ziege in den Stamm und wartet. Nichts. Der Mann beginnt zu paddeln, unbeholfen, doch er kommt voran.

Auf der anderen Uferseite lässt er die Ziege raus und dreht um.

Am Ursprungsort zurückgekehrt, stapft der Mann zum Kohl, stapelt ihn ein und bringt ihn auf die andere Seite zur Ziege. Dort wirft er sie auf einen Haufen und macht sich auf den Weg, den Wolf zu holen. Da hört er es knabbern. „UH!“ Er packt die Ziege an den Hörnern, zerrt sie in den Stamm und schafft sie zurück zum Wolf, um die beiden zu tauschen; ungeduldig und ohne dem Wolf ein Mitspracherecht zu gestatten. Er fährt los.

Auf halbem Wege wird der Wolf nervös. Der Stamm gerät ins Wanken, was ihn umso hektischer macht. Der Mann nimmt das Paddel in die Hand und haut es dem Wolf über die Rübe. Der Wolf winselt, beruhigt sich aber. So schafft es der Mann auch mit dem Wolf sicher ans andere Ufer.

Ein letztes Mal schleppt sich der Mann in den Stamm, paddelt zurück zur Ziege und holt diese nochmals hinüber.

Nachdem alle beisammen sind – Ziege, Wolf sowie Kohl – lässt sich der Mann nieder, ohne ein Feuer, ohne Lager, und schläft ein. Seine Müdigkeit übertrumpft die Sorge, dass beim Erwachen vielleicht nur mehr der Wolf übriggeblieben ist.

© Philipp Walden 2022-06-11