von MISERANDVS
Eilig ziehe ich die Schützhüllen von den kleinen Fähnchen auf meiner Mühle. Heute ist’s noch einmal warm, und heute fahre ich beflaggt. Für gewöhnlich lasse ich die Fähnchen in der Hülle. Alberner Kitsch, aber auf einer Wing gehören die irgendwie dazu. Als der Wind in den Stoff fährt, grinse ich, denn mir fällt Opa ein, als ich ihn gefragt hab, ob er nicht auch zum ersten Mai das Haus beflaggen will, wie die anderen. “Wenn ich die Flagge hisse, die ich will, dann sperren sie mich ein.”, hat Opa gegrinst. Rein rechtlich dürfte ich keine Flaggen auf meiner Maschine haben. Gleich zwei Normen regeln das. Sterbliche wie ich dürfen ihre Fahrzeuge nicht beflaggen. Strafrahmen bis € 5.000,-. Naja, die Cops drücken bis jetzt ein Auge zu – eher beide. Ein Mensch von Verstand würde die Flaggen abmontieren.
Mit einem Raunen auf den Lippen schaue ich in den Himmel zu meiner Rechten. Tiefschwarze Wolken und eine Regensäule, die nichts Gutes verheißt. Ein Mensch von Verstand würde jetzt das Auto nehmen.
Als ich kurz vor Bruck bin, beginnt es zu tröpfeln. War ja klar, dass ich nass werde. Ein Mensch von Verstand würde spätestens jetzt wenden und morgen herkommen, um eine Kerze aufs Grab zu stellen.
Langsam aber sicher werde ich bis auf die Haut nass und muss ich schmunzeln. Ich liebe den Regen. Aber ich hasse kaltes Wasser. Dilemma! Das hab ich Vati zu verdanken. Er war es, der mich als Pubertierenden beim Baden im Wörthersee auf die sogenannte “Beutelgrenze” hingewiesen hat. Davor wusste ich nichts von dieser Grenze, und kaltes Wasser war mir egal.
Ein Mensch von Verstand hätte sich zumindest in den knapp 28 Jahren als Biker mal eine Regenkombi angeschafft. Ein Mensch von Verstand hätte wenigstens die Motorradjacke angezogen. Ein Mensch von Verstand würde vermütlich nicht im Polo-Shirt klitschnass durch die Gegend gondeln.
Ich stell die Mühle an der Friedhofsmauer ab. Dann atme ich laut durch. Ein Mensch von Verstand würde nicht so oft hierherkommen.
Es regnet eifrig, und die nassen Klamotten hängen schwer an mir. Ich mach Lydia die neue Kerze an, hocke mich im strömenden Regen hin. Ich pruste, weil mir das Wasser übers Gesicht läuft. Langsam erhitzt sich die Laterne, und weißer Nebel steigt auf, als der Regen darauf verdampft. “Ein Mensch von Verstand…”, sage ich leise: “… hätte dich längst vergessen, Pollenfee. Ein Mensch von Verstand hätte vor 19 Jahren ein neues Leben begonnen, mit Frau, mit Haus, mit Kindern und Hund. Ein Mensch von Verstand wär deinem alten Herrn dankbar, dass er ihm deinen Koma-Anblick erspart hat.” Ich wisch mir den Regen aus dem Gesicht. Und ich zögere meine Worte lange hinaus: „Ein Mensch von Verstand hätte sich niemals so sehr verliebt, wie ich mich in dich.“
Ich stehe auf, Lydia bekommt ein Küsshändchen gehaucht, und ich sage leise: “Ich bin leider kein Mensch von Verstand. Ich bin ein Mensch des Herzens, wie du es auch warst.“
So ein regennasses Herz hat vielleicht ein Gewicht! Manchmal wär ich lieber ein Mensch von Verstand.
© MISERANDVS 2021-09-16