von Nic
Es waren die letzten Stunden vor meiner Abfahrt. Ich hatte Dich in dem kleinen Dorf im Süden, eingebettet zwischen Berglandschaft, Olivenhainen, Orangenplantagen und Meer oft besucht. Du, schon 82 Jahre alt, lebtest seit über 30 Jahren hier und wolltest nach einem bewegten Leben auch nie mehr von hier weg.
Meist saßen wir bis tief in die Nacht hinein auf Deinem Balkon zusammen. Ich wollte alles aus Deinem Leben erfahren, woran Du Dich erinnertest und was Du bereit warst, mir zu erzählen. Ich wollte verstehen.
Nachdem wir heute mit einem Glas Rotwein auf unsere gemeinsame Zeit angestoßen hatten, reflektierten wir unsere vielen Gespräche. Da wagte ich es, Dir die Frage zu stellen, die mir für mich von großer Bedeutung erschien: „Sag mir, bei all dem, was Du erlebt hast, wo steckt für Dich der Sinn?“ Dein Blick verriet mir, dass Du Dir darüber bereits oft Gedanken gemacht hast.
Dein Blick schweifte weit über die Orangenfelder hin zum Meer. Schließlich kehrte Deine Aufmerksamkeit zu mir zurück und Du sahst mich konzentriert an: „Was der Sinn in allem ist? Ich persönlich glaube, einfach darin, dass wir da sind.” Du erzähltest mir, die ich gespannt zuhörte, vom Netz der Indra: „Das Netz ist mit schillernden Diamanten auf den Webknoten bestickt. Diese Diamanten stellen die Seelen der Menschen dar. Im Netz verwoben reflektieren und spiegeln sie sich gegenseitig.“
Du sahst mich durchdringend an: “Weißt Du, ich glaube, wir sind alle solche Diamanten, keine Seele kann verloren gehen, denn sie ist gezählt. Wir können auf unserer Reise durch das Leben im Schatten stehen, doch sobald das Licht zurückkehrt und wir uns ihm zuwenden, leuchten wir in voller Pracht.”
Ich war fasziniert. So etwas sagtest Du, eine Frau, die schon so jung Waise wurde, eine Frau, die als Kind irgendwie den Krieg überlebt hat, eine Frau, die auch als Erwachsene immer wieder vor großen Herausforderungen stand, eine Frau, die nicht nur einmal Schmerz und Leid erlebt hat. Es drängte sich mir die Frage auf: „Doch warum, sag mir, warum denkst Du, gibt es Leid?”
An dem Glitzern Deiner Augen erkannte ich, dass Deine Antwort nur darauf wartete, endlich einmal ausgesprochen zu werden: „Ich glaube, dass wir alle rohes Urgestein sind. Doch das Leben lässt uns nicht unberührt. Es schleift an uns, Tag um Tag, Jahr um Jahr, Ewigkeit um Ewigkeit. Jeder Schliff schmerzt. Doch wenn wir uns darauf einlassen und Stand halten, kann er uns zu Weisheit und Leuchtkraft führen. Und je länger unsere Lebensreise ist, umso schöner wird der Schliff, vom rohen Diamanten hin zum kunstvoll geschliffenen Brillanten.“
Als Du fort fuhrst, war Deine Stimme voller Pathos: „Weißt Du, ich denke, so wachsen und reifen wir, Tag auf Tag, jeder für sich – doch im Gesamten, in der gegenseitigen Lichtreflektion miteinander verflochten gemeinsam.“
Während die kleine Kerze auf dem Tisch zwischen uns flackerte und wir uns bewegt anlächelten, wollte ich die Magie dieses Moments für immer in mir festhalten.
© Nic 2022-07-30