von Sonja M. Winkler
Am letzten Tag des Jahres lernte ich ein neues Wort. Kein ausgefallenes Fremdwort, nein, es war ein Wort, das ich bislang weder gelesen noch gehört hatte, ein Wort, das im großen österreichischen Wörterbuch zwischen „gesittet“ und „Gesöff“ aufscheinen müsste.
Immer wenn der Lift in irgendeinem Stockwerk feststeckt und nicht reagiert, nehme ich die Stufen. So auch am 31. Dezember. Als ich im 2. Stock angelangt war, ging die Lifttür auf, und Frau S. trat aus der Kabine, an jeder Hand einen prallen Einkaufssack. Ich habe mit Frau S. in den 25 Jahren, die wir in dieser Anlage wohnen, noch nie ein Wort gewechselt. Wir grüßen uns, das ist alles.
Frau S. teilt die Wohnung mit ihrem Lebenspartner, der sich in Alter, Größe und Statur von ihr kaum unterscheidet. Das ist augenfällig, wenn man die beiden von hinten sieht, ihn, den kleinen, zierlichen Mann, und sie, die Mittfünfzigerin, die schmalen Hüften in enge Jeans gepackt, flaches Schuhwerk, Bürstenhaarschnitt.
Die beiden haben keine Kinder, aber ein Auto, einen Campingbus und ein Motorrad. Das Auto, ein kleiner, giftgrüner PKW, wird ausschließlich von Frau S. benützt. Ich begegne ihr hin und wieder in der Tiefgarage, denn ihr Stellplatz ist unweit von meinem. Im Sommer stand längere Zeit ein Campingbus vor der Haustür. Ich sah den Lebensgefährten an ihm herumhantieren. Wo das riesige Gefährt übers Jahr untergebracht ist, weiß ich nicht, in der Tiefgarage jedenfalls nicht.
Als Frau S. aus der Liftkabine trat, stellte sie ihre Einkaufstaschen auf dem Boden ab und versperrte mir, die ich im Laufschritt unterwegs war, den Weg zum nächsten Treppenabsatz. Ich blieb stehen, nahm den bevorstehenden Jahreswechsel zum Anlass und wünschte ihr alles Gute fürs kommende Jahr. Frau S. sah mich an mit ihren ernsten, eisblauen Augen und legte die Stirn in Falten. Ich hab‘ sie übrigens noch nie lächeln sehen.
Ich kann nicht mehr genau sagen, welches Stichwort sie dann so in Fahrt brachte. Ich verzichte hier auf die Wiedergabe dessen, was sie wortreich beklagte, die Querelen und Zwistigkeiten zwischen ihr und den Mietern im 2. Stock. Und dann fiel dieses Wort, das ich bislang nicht kannte. Übles Gesocks. Der 2. Stock sei voll mit üblem Gesocks, wiederholte sie. Auch wenn sie keinerlei geläufige Synonyme angeführt hätte, wie Pack, Gesindel und Bagage, wäre klar gewesen, was mit „Gesocks“ gemeint war.
Als ihr Wortschwall ein Ende fand, setzte ich meinen Weg ins 2. Dachgeschoß fort.
Gegen Menschen wie Frau S. ist leider kein Kraut gewachsen. Sie überwerfen sich mit Krethi und Plethi, egal wo sie sind.
Als ich mich meiner Wohnungstür näherte, wartete ein Flascherl Hochriegl-Rosé-Baby auf der Türschwelle, eine Aufmerksamkeit meines Nachbarn. Ich muss wohl nicht betonen, dass ich ausgesprochen viel Glück habe, denn im 2. Dachgeschoß wohnen lauter liebe Menschen. Wie heißt es so schön? Wie man in den Wald hineinruft …
© Sonja M. Winkler 2021-01-04