von Kemal Kulaksız
An dem Tag hatte ich alle Nachmittagssitzungen abgesagt und war früher nach Hause gegangen. Mein Kopf war wie ein brodelnder Kessel. Der Druck drohte, die Schädeldecke zu sprengen. Seit Stunden lag ich im Bett und war am Verwelken. Der Himmel ergraute. Vereinzelte Tropfen fielen durch das offene Fenster ins Schlafzimmer. Ich streckte den Hals unter der Decke hervor und sog die feuchte Luft ein. Ein Spaziergang im Regen würde die Kopfschmerzen lindern.
Aus dem Schrank nahm ich die Gummistiefel und den Regenschirm. In der Ecke stand ein weiterer Schirm. Zwei seiner Speichen waren gebrochen. Er ließ sich zwar öffnen, aber sah nicht mehr elegant aus. Es war an der Zeit, ihn zu entsorgen. Als ich aus der Tür trat, hielt ich einen Augenblick inne. Auf den Stufen saß ein Mann und schlotterte. Seine Jacke und seine Hose waren zerschlissen, die langen Haare fettig und die Haut rot und aufgedunsen. Wie war er ins Stiegenhaus gelangt? Er drückte sich gegen die Wand und wandte das Gesicht von mir ab, als ich an ihm vorbeiging.
Vor dem Restmüll blieb ich stehen und sah auf den Regenschirm, den ich entsorgen wollte, und dann zum Stiegenhaus, aus dem ich kam. Früher oder später würde der Obdachlose wieder hinausgehen. Und was, wenn es dann stärker regnete? Ich sollte zurückgehen und ihm den Schirm geben. Aber ich tat es nicht. Stattdessen stand ich reglos vor der Tonne und zählte die Regenflecken auf dem Asphalt. Dann warf ich den Schirm weg. Warum ich das tat, weiß ich nicht, aber ich tat es.
Die Menschen beobachtend, schlenderte ich die Hauptstraße entlang. Sie waren alle in Eile. Manche kamen zu spät zum Abendessen, andere warteten vor Cafés und Restaurants auf ihre Verabredungen und wieder andere schmissen halbverzehrte Burger und Sandwiches weg.
„Und wenn er noch da ist, wenn ich zurückgehe?“, fragte ich die Regentropfen, ohne eine Antwort zu erwarten.
Als die Straßenlaternen aufleuchteten, machte ich kehrt. Ich kam an einem Textil-Diskonter vorbei. Die Verkaufsmitarbeiterin war dabei, einen käfigartigen Thekenständer mit zusammengerollten Decken ins Geschäft zu schieben. Es war noch kälter geworden und ich zog meine Jacke enger.
„Wir schließen schon“, sagte die Verkäuferin, als ich hineingehen wollte.
„Bitte, nur die eine Decke.“
Mit einem Zehn-Euro-Schein bedankte ich mich und ging nach Hause. Der Obdachlose saß noch auf den Stufen und wandte sich wieder von mir ab, als ich an ihm vorbeiging. In der Wohnung ging ich in die Küche, stellte eine Pfanne auf den Herd, briet zwei Eier, die ich mit Salz, Pfeffer und Minze würzte, und machte ein Spiegelei-Käse-Sandwich. Dann füllte ich einen Pappbecher mit frischem Kaffee, eine Glasflasche mit Wasser und platzierte alles feinsäuberlich auf einem Plastikteller. Mit der Decke unter dem Arm und dem Teller in der Hand ging ich zur Tür.
„Haben Sie Hunger?“
© Kemal Kulaksız 2021-03-18