von Grünblau
Die Wanderung geht über 303 Stockwerke. Sagt ein Plakat ganz oben am Gipfel, oder nicht ganz oben, 3 Stockwerke unter dem Gipfel neben der kleinen Dampflok betriebenen Bahn, die einen wieder ins Tal bringt. Fühle ich mich dem gewappnet? Habe ich die Kraft dazu? Hinauf habe ich es gut geschafft, die Pause oben fiel aber leider etwas kurz aus, weil es doch sehr windig, wolkig und damit kalt gewesen war.
Aber die Menschenmassen, die mit der Bahn wieder nach unten befördert werden wollen und nicht auf einmal in den Zug hinein passen, überzeugen mich davon, doch lieber zu Fuß zu gehen. Der erste Teil ist sehr steil und steinig und macht mir wenig Spaß. Ich bin froh, als ich die Mittelstation erreiche und diesen Teil hinter mir habe.
Auf der Mittelstation erstreckt sich eine große Almwiese mit zwei kleinen Hütten und einer Herde Rinder. Es sind größtenteils junge Bullen, die hier grasen. Wunderschöne graue Tiere mit sehr dichten langen Wimpern und großen Augen, die einen gutmütig und seelenruhig anblicken. Auch braune Kühe mit weißen Flecken, wie aus der Werbung. Manche stehen mitten im Weg, andere liegen in kleinen Gruppen von bis zu fünf Tieren am Boden und käuen wieder. Wieder andere stehen alleine auf der Wiese und grasen vor sich hin. Am Horizont ist ein azurblauer See zu sehen, am Hang immer kleiner werdend die braunweiß gefleckten und cremegrauen Tupfer, die sich auf der märchenhaften Wiese mit bunten Bergblumen tummeln.
Alles hier ist so herrlich idyllisch, bunt, friedlich, die Rinder verbreiten eine Ruhe, wie ich sie vom Meer kenne, wenn ich dem Rauschen lausche. Ein Bulle blickt mich an und macht zwei sehr langsame Schritte auf mich zu. Er schnuppert an meinem grünen Schal mit farbigen Tupfern. Ich streichle seine Stirn und erkläre ihm flüsternd, dass das kein Futter ist.
Ich spüre etwas Wehmut dabei in mir hochkommen. Vorhin haben Touristen oder Wanderer fröhlich Selfies mit den Rindern auf dem Weg geschossen. Ich frage mich, was wohl in ihren Mägen war, als sie mit den Rindern posierten. Rinderfilet? Kalbswurst? Schnitzel oder Steak? Die Bullen hier sind noch jung, haben noch nicht das massenhafte Fleisch ihrer dazu gezüchteten Art angesetzt. Man sieht ihnen den menschengemachten Zweck ihrer Existenz noch nicht an. Den bereits festgesetzten Todestag, an dem sie kopfüber aufgehängt werden, um auszubluten, nachdem sie mit einem Bolzenschuss an der Stelle getötet werden, an dem ich den netten Bullen gerade gestreichelt habe. Die Marken in den Ohren zeigen an, das sind keine Tiere zum Streicheln, sondern gefühllose Produkte.
Ich sehe die Idylle und in meinem Kopf tut sich ein Abgrund auf, der direkt in die Hölle des Schlachthauses führt, in dem das Tier nicht mehr die friedliche, seelenruhige Almkuh ist, sondern ein blutendes Stück Fleisch, kalt und blutleer, nicht mehr warm, kuschlig und sanftmütig, wenn es sein Leben verliert, um zu Bärchenwurst, Bratwurst und Schnitzel gemacht zu werden. Damit sie als Wandererproviant dienen dürfen, für die nächste Fuhre Menschen an diesem Ort, der Frieden und Hölle vereint. Was ist das für eine Welt?
© Grünblau 2023-06-21