von Brigitte Böck
Februar 1991, eine bedrückte Stimmung und Angst lag in Berlin in der Luft. Der Golfkrieg führte bei den Menschen zu einer großen Kriegsangst und auch ich war davon erfasst. Mit einer Freundin wollten wir dieser Bedrückung entfliehen und buchten eine 10 tägige Reise auf die Insel Amrum. Eine Auszeit, Stille, das Meer und Natur sollte unsere angespannten Nerven beruhigen. Es war sehr kalt, aber wir hatten auf der autofreien Insel ein hübsches Häuschen und genossen bei einer Flasche Wein den ersten friedlichen Abend.
Am nächsten Morgen rief Judith: “ Gitti komm schnell, das musst du sehen”, und ich rannte im Schlafanzug zur Tür. Welch ein überwältigender Anblick, es hatte geschneit, der Ort sah aus, wie aus Zuckerwatte, lautlose unschuldige Stille. Ein solcher Kontrast zu unserer gestrigen Stimmung. Wir spürten die Kälte nicht, hielten uns an den Händen und weinten. Judith fing an, mit den Zähnen zu klappern und so kochten wir Kaffee und nahmen unser Frühstück ein, wir hatten in Berlin vorgesorgt. Dann zogen wir uns warm an und bauten schweigend vor unserem Häuschen eine wunderschöne große Schneefrau mit herrlichen weiblichen Rundungen und nannten sie Miranda. Sie bekam eine Pudelmütze, einen roten Schal um die Hüften und eine Holzperlenkette, sie war wunderschön und würde uns nun beschützen.
Wir verabschiedeten uns, drehten uns noch einmal um, winkten und wollten ans Meer. Wir liefen still durch diese traumhaft schöne Natur, atmeten bei jedem Schritt tief in unsere stadtgeschädigten Lungen und waren glücklich. Wir redeten nicht, um diese Atmosphäre nicht zu stören, bis wir ans Meer kamen. Der Strand war menschenleer, der Sand war zugefroren und glitzerte in der Wintersonne. Vorsichtig gingen wir über das Eis, man konnte hindurchsehen, plötzlich blieb ich stehen. Im Eis festgefroren lag eine wunderschöne Muschel. Ich versuchte, sie mit einem Stöckchen zu lösen, aber das Eis war zu hart. So standen wir und überlegten, wie wir diese Muschel mitnehmen könnten.
Wir hatten ein Feuerzeug dabei für unsere abendlichen Kerzen, aber das brachte nichts. Schließlich hatte ich eine Idee: „Judith, wir stellen uns nacheinander über die Muschel und pinkeln drauf, erst ich, dann du, das wird das Eis schmelzen. Und das taten wir dann auch, zielgenau und ganz andächtig. Freude kam in uns auf und wir versuchten nun, mit dem Stöckchen das Eis zu lösen. Es klappte auch, aber als wir sie vorsichtig greifen wollten zersprang sie in viele kleine Scherben. Wir guckten uns an und jede verließ den Platz in eine andere Richtung, um mit dem Verlust und dem Schmerz allein fertig zu werden. Es war, wie eine Metapher, wir wollten etwas haben, was die Natur uns zu diesem Zeitpunkt nicht geben wollte. Mit etwas Geduld und auf das Tauwetter warten hätten wir diesen Schatz gehoben.
Miranda begrüßte uns, sie sah aus, als ob sie lächelte über unser kindliches Besitzenwollen. So ging eine herrlich erholsame Zeit zu Ende, wir hatten Seelennahrung getankt.
© Brigitte Böck 2021-05-21