Odette liebte ihren Garten. Aus dem kargen, mit Kalksteinen durchsetzten Ackerland auf dem lehmigen, kaum fruchtbaren Boden hatte sie ein Paradies geschaffen. Es war nicht die übliche rechteckige Fläche, umgeben von einer Reihe wechselnder Büsche und Sträucher, in der Mitte ein gepflegter Rasen, der von einem Rasenroboter auf gleicher Höhe gehalten wurde, so wie die Gärten in der Nachbarschaft fast alle gleich aussahen. Ihr Garten war ein verwinkeltes Gebilde mit Ecken und Nischen, mit Ausbuchtungen und Einschnitten, zum Staunen und Verweilen, zum Meditieren und Chillen. Hier eine originelle Beeteinfassung, dort Rosenbeete im Wechsel mit Wildblumen, an anderer Stelle hohe Ziergräser, die eine kleine Buchsbaumreihe untermalten, insektenfreundliche Blühstauden neben Hochbeeten für Gemüse und Kletterpflanzen für fruchtige Obstsorten. Eine japanische Nische grenzte an ein Alpenpanorama, eine provenzalische Beetkomposition an eine asiatische Meditation. Alles nacheinander und nichts gleichzeitig, je nach Möglichkeit, und im Laufe der Jahre kamen immer neue Bereiche hinzu, die erstaunlicherweise schon nach kurzer Zeit in voller Blüte standen. Oft schauten Nachbarn neidisch und begeistert „über den Zaun“, die sie gerne regelmäßig zu einem Besuch einlud. Ein Besuch glich oft einer touristischen Reise durch die verschiedensten Länder der Erde. Sie hatte diesen „grünen Daumen“, dieses gärtnerische Geschick. Die schönsten Fleckchen hatten sogar Namen. Sie wurde neidisch beäugt, aber man gönnte ihr den Erfolg. Bei allem Charme, bei aller Anziehungskraft, die sie ausstrahlte, schien sie in anderer Hinsicht, nämlich in ihren Beziehungen, vom Pech verfolgt zu sein.
In all den Jahren hatte sie zwar viele Bekanntschaften, aber die Beziehungen waren selten von Dauer. Wenn sie nach einer kurzen, heftigen Liebelei ihre ganze Mütterlichkeit über den Partner ausschüttete, fühlte der sich bald eingeengt und verschwand nach kurzer Zeit aus ihrem Leben. Sie blieb allein zurück. „Das ist nur eine Phase, Hase“, beruhigte sie sich, bevor sie sich auf die Suche nach einem neuen Mann machte. Grundsätzlich interessierte sie sich nur für Männer, die allein und ohne Familie lebten. Sie war keine „Erbschleicherin“, aber verwandtschaftlicher „Klamauk“ machte sie eher krank. Darauf wollte sie verzichten.
Ihr neuer Freund Ralf war ein gut aussehender Junggeselle. Nach einer kurzen heißen Liebesphase zog er bei ihr ein. Sie kümmerte sich um ihn, wollte ihn diesmal unbedingt länger behalten, nahm sich zurück und versuchte, alle seine Wünsche nur aus dem Hintergrund zu erfüllen. Vor allem aber versorgte sie ihn stolz mit allerlei Leckereien aus ihrem Garten. Aber auch diese zurückhaltende Mütterlichkeit machte ihn krank. Sie fühlte sich wieder einmal in die Rolle einer Pflegerin gedrängt, die sich Tag und Nacht um ihn kümmern musste, die versuchte, seinen Verfall aufzuhalten, die all ihre Kraft dafür aufwendete und irgendwann erkennen musste, dass ihre Bemühungen vergeblich waren. Eines Morgens fand sie ihn tot in seinem Bett. Natürlich hatte sie ihm schon lange ein schönes Plätzchen im Garten reserviert, das sie mit Taglilien bepflanzen und „Ralf“ nennen wollte. Es lag neben „Wilfried“ und gegenüber von „Gerd“. Dafür musste sie den Goldregen und die Tollkirsche versetzen.
Aber die hatten für dieses Jahr sowieso ausgedient.
© Heinz-Dieter Brandt 2024-05-03