Ein Tagebuch unserer Zeit

Christian Mayerhofer

von Christian Mayerhofer

Story

Ich beginne die Spanne unserer Zeit mit Anton Tschechow, der kurz vor seinem Tod, 1904, sein Werk „Der Kirschgarten“ veröffentlichte. Das Stück spielt im Spannungsfeld von Fortschritt, die „Maschine“ (Eisenbahn; Anm.) und Bewahrung, der „Garten“. Tschechow: „Das Leben wird langsam selbst zur puren Morddämonie. Alles grau, glückliche Menschen nirgends zu sehen; allen geht es mies.“

Der österreichische Bundeskanzler meinte 2022 am Parteitag, wenn die vielfältigen Krisen nicht bewältigt werden können, könnten den Menschen nur noch Alkohol und Psychopharmaka helfen. Tschechow würde darauf antworten, dass man mit einem Glas den nicht betrunken macht, der bereits ein ganzes Fass ausgetrunken hat!

Wenn ich über unsere Zeit berichte, möchte ich nicht Fragen wie Pessimismus, Moral, Gott und die Welt klären, sondern darstellen, wer, wie und unter welchen Umständen darüber gesprochen hat. Ich möchte nicht Richter der Menschen und ihrer Themen sein, sondern Zeuge ohne Leidenschaft.

Die großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts hat Tschechow nicht erlebt; Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion, Holocaust, Hiroshima, Vietnamkrieg: Vernichtungsfeldzug bedeutete alle nicht „arischen“ Menschen zu töten, um für die deutsche Bevölkerung neuen Lebensraum zu schaffen; Holocaust war die systematische Vernichtung von Menschen jüdischer Herkunft, behinderter und andersdenkender Menschen; Hiroshima steht für kollektiven Massenmord an einer Bevölkerung; im Vietnamkrieg, Stellvertreter-Krieg der Supermächte, gab es unter anderem auch systematische Luftangriffe auf Zivilpersonen.

Friedrich Dürrenmatt, geboren 1921, veröffentlichte 1962 sein Werk „Die Physiker“ indem es um einen Wissenschaftler geht, der sein Wissen, welches Vernichtung birgt, vor dem Zugriff der Macht schützen möchte. Er flüchtet aus der irren Welt der Wissenschaft ins Narrenasyl. Dürrenmatt erlebte als Zeitzeuge noch den Fall der Berliner Mauer, bevor er 1990 starb. Welche Lehren haben wir von den Zeitzeugen der Geschichte, den Autoren des 20. Jahrhunderts gezogen?

In diesen Tagen gibt es immer wieder Kritik an Staaten, denen Völkerrechtsverletzungen vorgeworfen werden aus Ländern, die sich selbst im vorigen Jahrhundert an den größten Verbrechen schuldig gemacht haben. Auf der einen Seite könnte als Einwand argumentiert werden, dass das moderne Völkerrecht erst mit Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden ist und es daher mit den damaligen Verhältnissen schwer zu vergleichen sei. Als Symbol für das Völkerrecht gilt die UNO, welche 1945 gegründet wurde und nebenbei erwähnt, nur deshalb funktioniert, weil sie so konzipiert ist, wie es von Anfang an war. Wäre der Sicherheitsrat anders zusammengestellt, drohte ein Scheitern der Institution, wie der Vorgängerorganisation, dem Völkerbund! Auf der anderen Seite gibt es das klassische Völkerrecht schon seit 1648, durch den Westfälischen Frieden …

Musiktipp: „Now and Then“, Beatles, 1980 by John Lennon (AI-remastered, 2023)


© Christian Mayerhofer 2022-09-27

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