Vor jeder Abreise gibt es viele letzte Male. Für Tata waren es eine letzte Nacht bei uns, ein letztes Käsebrot zum Frühstück, eine letzte U-Bahnfahrt, ein letzter Blick aus dem Fenster auf uns und später auf Deutschland – das Heilige Land. Jedes Mal seufzte sie schwer und als sie aus dem Zugfenster winkte, kullerten ihr große Tränen aus den Augen.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mich mit dem Zug zu meinem Schüleraustausch nach San Petersburg aufmachte. Es war ein schöner Spätsommertag. Die Sitzpolster waren verstaubt und rochen modrig, aber sie waren weich und gemütlich. Ich hatte einen Fensterplatz und konnte den Sonnenuntergang beobachten. Ich war nervös, aber auch voller Vorfreude. Wie unterschiedlich Tatas und meine Fahrten nach Russland waren.
Aber ich verstehe es. Denn die Zeit in Russland war ein Schock. Tata und ihre Mutter wohnten am Stadtrand in einem riesigen Plattenbau auf freiem Land. Um ihn zu erreichen, mussten wir von der U-Bahn zwanzig Minuten über einen holprigen und matschigen Feldweg marschieren. Die winzige Zweizimmerwohnung im fünfzehnten Stock war so heiß geheizt, dass ich einen Schweißausbuch bekam. Auf der Couch, auf der ich schlafen sollte, lag ein Bikini bereit. Die Heizung runterzudrehen war absolut keine Option. Zum Essen gab es Wurst – morgens, mittags, abends – Wurst!
Nach jedem Abendessen takelte sich Tatas Mutter auf. Dann gab sie Tata einen Kuss auf die Stirn, warf mir einen Luftkuss zu und ging. Erst am Morgen kam sie wieder, bereitete das Frühstück und brachte uns in die Schule. Da war sie immer noch aufgetakelt und schritt in High Heels über den Feldweg.
Tata sprach fließend Deutsch, hatte ausschließlich Einser, keine Hobbies und nur ein Ziel: Deutschland. Denn als alleinerziehende Prostituierte an einem Austauschprogramm mit einer Berliner Waldorfschule teilzunehmen, war für Tatas Mutter reine Ambition. Es sollte ihrer Tochter die Tür in ein besseres Leben öffnen.
Für mich waren die letzte Nacht in der kochenden Wohnung, die letzte Wurst und der letzte Gang über den Feldweg also keine schweren Abschiede. Und für Tata – wage ich zu vermuten – war wahrscheinlich auch nur der von ihrer Mutter schwer.
Dafür waren die letzten Male in Deutschland ein bitterer Brocken und bevor sie in den Zug stieg, sagte sie in akzentfreiem Deutsch: „Es wird das letzte Mal sein, dass ich nach Sankt Petersburg zurückfahre!“
Weil mich das Internet über ihr Leben informiert, weiß ich, dass sie nicht rechtbehalten hat. Nach dem Schulabschluss zog sie zwar mit einem Studienstipendium nach Mannheim, besucht aber nach wie vor regelmäßig ihre Mutter.
© Moritz Sacid Polixa 2022-08-29