von Naomi Russo
Ich blicke sie von der Seite an, mustere ihre langen Wimpern, die kleine Nase, die vollen Lippen. Sie starrt gedankenverloren ins Feuer, dessen Schimmer ihr Gesicht in ein goldenes Licht taucht. Sie ist zweifellos der schönste Mensch, den ich in meinem Leben je gesehen habe. âDu kannst hier bleiben, solange du möchtest. Ich bin tagsĂŒber sowieso viel unterwegs“, sage ich. Sie sieht mich an und lĂ€chelt vorsichtig. âOkayâ, antwortet sie dankbar. Mit einem FlĂŒstern, das so leise ist, dass ich es kaum höre und doch ist das ganze Zimmer davon erfĂŒllt.
Ich habe sie mittags am Bahnhof getroffen. Es war windig und regnerisch, kein guter Tag, um drauĂen zu sein. Weinend hatte sie auf einer der grauen BĂ€nke am Gleis gesessen, die Arme um sich geschlungen, den Blick gegen den Boden gerichtet, neben ihr ein kleiner grĂŒner Rucksack. Ich fragte sie, ob alles okay sei. Sie erzĂ€hlte mir von ihrem Heimatland und dass sie alles auĂer den kleinen grĂŒnen Rucksack verloren habe und nicht wisse, wohin sie als NĂ€chstes solle. Deutsch hat sie in der Schule gelernt, die sie vor zwei Jahren abgeschlossen hatte.
âIch bin Charlotteâ, meinte ich. Sie heiĂe Alisa.
Wir gingen in ein CafĂ© in der NĂ€he des Bahnhofs. Sie trank wortlos ihren schwarzen Kaffee und beobachtete mich immer wieder. In ihrem Blick lag etwas Misstrauen aber vielmehr Neugierde. Ich erzĂ€hlte ihr, dass ich Medizin studiere, gerne Volleyball spiele und in einer kleinen Wohnung mit einem Kachelofen wohne. Sie begann, vorsichtig zu lĂ€cheln. âWir haben auch einen Ofen zu Hause. Oder hatten.â, sagte sie. Ich hatte vorgeschlagen, dass sie bei mir auf der Couch ĂŒbernachten könne, bis sie eine dauerhafte Bleibe gefunden hat. Verlegen willigte sie ein und wir begannen ein GesprĂ€ch, das andauerte, bis die Dunkelheit hereinbrach.
âIch mag deine Wohnung. Es ist ein Zuhauseâ, sagt Alisa, ohne den Blick vom Feuer zu nehmen.
Es ist der dritte Abend, den wir gemeinsam in meinem kleinen Wohnzimmer verbringen. Ich habe ihr die Stadt gezeigt, die besten CafĂ©s und Bars, die UniversitĂ€t und meinen Lieblingspflanzenladen. Alisa erzĂ€hlte mir von ihrer Familie, dem Krieg und der Angst, die sie nachts heimsucht. Manchmal schreit sie im Schlaf und wenn ich ins Wohnzimmer laufe, um sie zu beruhigen, sehe ich sie verĂ€ngstigt, sich unruhig wĂ€lzend auf dem Sofa liegen, den kleinen grĂŒnen Rucksack eng an den schmĂ€chtigen Körper gepresst.
âUnd ich glaube, dich mag ich auchâ, fĂŒgt sie hinzu. Ich lĂ€chle still, doch ich bin mir sicher, dass sie es hört.
Mein Blick fĂ€llt auf ihre Hand, die auf ihrem Knie ruht. Ich berĂŒhre sie sanft, streiche ĂŒber die kĂŒhle aber weiche Haut. Mein Herz klopft schnell. Alisa sieht mich an. Sie greift nach meiner Hand und unsere Finger verschrĂ€nken sich ineinander. Sie hat vieles verloren, doch vielleicht kann ich ihr eine Sache wiedergeben: ein Zuhause.
© Naomi Russo 2023-02-20