Eine Busfahrt

Die Haustür fällt hinter ihr ins Schloss und sie geht den kurzen Weg hinunter, an der Bäckerei vorbei, bis sie an der Bushaltestelle steht. Zu ihrer Überraschung kommt der Bus heute sogar pünktlich. Sie steigt direkt hinter der Frau mit dem Kinderwagen ein. Obwohl es ein warmer und sonniger Frühlingstag ist, weht ihr aus dem Inneren des Busses eine eisige Brise entgegen. Doch sie wundert sich nicht, das kennt sie schon.

Der Herr mit dem blauen Hut maunzt die Frau mit Kinderwagen an, er müsse jetzt hier aussteigen und sie stehe mitten im Weg. Eine Dame mit strengen Augen beschwert sich lauthals über die Maskenpflicht. Jemand spuckt sein Kaugummi auf den Boden, es bleibt mit einem dumpfen Ploppen liegen. Angewiderte Mienen.

Und sie? Sie fühlt sich wie ein Schwamm. Großporig und ausgetrocknet, irgendwie schutzlos. Sie zieht die Stimmungen der anderen Fahrgäste an, saugt sie auf, bis sie randvoll ist mit Unachtsamkeiten und kalten Blicken. Das lässt sie klein in ihrem Sitz zusammenschrumpfen, am liebsten würde sie sich in Luft auflösen. Dann schaut sie sich um und wirft die kalten Blicke gleichsam zurück, um sich selber vor zu viel Frost zu schützen.

Stets war sie davon überzeugt, Nettigkeit wäre eine Tugend, so hatte sie das schließlich gelernt. Doch Nettigkeit wird leider oft mit Schwäche verwechselt. Wer freundlich ist, wird übergangen und wer zu allem „ja“ sagt, schnell ausgenutzt. „Nett ist die kleine Schwester von Scheiße!“, hatte sie irgendwo mal aufgeschnappt.

Ein großer, großer Irrglaube, dem viele aufsitzen, das wusste sie, davon war sie überzeugt. Gerne hätte sie in die Welt, zumindest aber in den Bus hinausgeschrien, dass nett die große Schwester von mutig ist, die Netten doch eigentlich die Starken sind, weil sie trotz der Ellenbogen in ihren Rippen ein Lächeln auf den Lippen tragen. Weil sie versuchen, das Gute zu sehen. Aber das ist anstrengend, kostet Kraft. Deshalb bleibt sie lieber stumm und schreit nicht.

Der Bus fährt um die Kurve, Haltestelle ‚Altes Tor‘, sie drückt den Stopknopf, steigt aus und geht die Straße entlang. Entfernt sich von dem Bus mit den bitteren Insassen. Wer weiß schon, ob sie die Erkenntnis, die Stärke der Netten im Herzen behalten wird. Vielleicht wird auch sie nur bitter, mit jeder Busfahrt ein wenig mehr.