Eine Episode aus dem Leben meiner Mutter

Anne Michel

von Anne Michel

Story

Wenn ich an unsere Mutter denke, fallen mir sofort tausend Ereignisse ein, über die es sich zu berichten lohnt.

Ihr Lebensweg war lang, beschwerlich, glücklich und traurig. Aber sie fand immer eine Möglichkeit, die Herausforderungen des Lebens zu meistern und mit dem Erreichten zufrieden zu sein.1921, 3 Jahre nach Ende des 1. Weltkrieges, als 2. Kind geboren, kam sie nicht umhin, schon früh zu lernen, was Entbehrung und Not bedeutet. Ich erinnere mich nicht, dass sie sich jemals über ihre Kindheit und ihr Leben beklagt hätte. Dass sie eine ausgezeichnete Schülerin war, ist belegt. Ich hatte nämlich beim Kramen unter einem Wust von Dokumenten ihre Schulzeugnisse gefunden.

Es war ihr nicht erlaubt eine Lehre zu absolvieren. Stattdessen wurde sie mit 14 Jahren in Stellung geschickt. Für wenig Lohn, dafür aber mit Kost und Logis, arbeitete sie in einem Haushalt. Allein die Vorstellung, dass solch eine Konstellation mein Los gewesen wäre, verursacht bei mir Brechreiz.1944 erkrankte sie schwer an Gelenkrheumatismus. Der Auslöser war eine unbehandelte Mandelentzündung, die einen fünfwöchigen Krankenhausaufenthalt nach sich zog. Zeitgleich bekam ihr damaliger Verlobter, der seit Kriegsbeginn 1939 an der Ostfront stationiert war, Heiratsurlaub. Kurz vor der Veröffentlichung des 2. Aufgebotes, fiel dem Paradebeispiel an Charakterlosigkeit, gerade noch rechtzeitig ein, dass er seit 2! Jahren verheiratet war, eine Tochter hatte und seine Frau erneut schwanger war.

Über die Reaktion meiner Mutter möchte ich nicht spekulieren. Ich glaube, alles, was ich niederschreiben würde, könnte nicht ansatzweise beschreiben, in welch ein Gefühlschaos dieser Dreckskerl seine Verlobte gestürzt hatte. Man stelle sich die Situation vor: 1944, damals, wo die Schmach noch schwerer wog, als das Vergehen selbst, war sie bloßgestellt in der Gemeinde, bei Freunden und Verwandten. Gesellschaftlich ruiniert. Kurzentschlossen ergriff sie die Chance zu einem Ortswechsel und flüchtete nach Koblenz. Auf der Festung Ehrenbreitstein besaß die Freundin meiner Großmutter ein Hotel. Helfende Hände wurden dringend gebraucht. Dort fand die Unglückliche, Ruhe, Arbeit und Unterkunft.

Luftangriffe waren an der Tagesordnung. Die abgeworfenen Phosphorbomben brachten Tod und Verwüstung über die leidgeprüfte Stadt. Eines Tages, meine Mutter war auf dem Weg in den Luftschutzkeller, krachte eine Bombe durch das Mansardenfenster und blieb auf dem Bett einer Mitbewohnerin liegen. Meine Mutter ließ alles, was sie in den Händen hielt, fallen und rief: «Schnell nimm du die Matratze am unteren Ende, ich nehme das Obere». Sie warfen das gute Stück samt der Bombe gerade noch rechtzeitig durch das Loch ins Freie, wo der Sprengsatz in der Luft augenblicklich detonierte. Erneut nahmen sie das Gepäck auf und flüchteten in den Bunker. Dort angekommen brach die Freundin meiner Mutter in ein hysterisches Lachen aus und meine Mutter fiel in Ohnmacht.

© Anne Michel 2021-03-06

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