Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

Frederik Dressel

von Frederik Dressel

Story

Sie hatte sich „wohl dagegen entschieden zu lenken“. So die finale Expertise des Gutachters, den die Versicherung bestellt hatte. Und mit der ich leben musste. Leben, wenn das denn ging, mit der Erkenntnis, dass man keine andere Erklärung für den Unfall gefunden hatte, und keine Antwort auf die Frage nach dem Warum.

Was uns nicht davon abhält, sie uns trotzdem zu stellen; auch jetzt noch, Jahre nach dem Unfall, gibt es um diese Jahreszeit kein anderes Thema im Dorf, als Anna und ihren Unfall. Als die Frage, warum sie wohl nicht gelenkt hat, an jenem verhängnisvollen Tag kurz vor Weihnachten. Sicher, die Straßenverhältnisse waren schlecht gewesen, von der Sicht ganz zu schweigen. Und ja, es stimmte, auf der kurvenreichen Passstraße konnte man die Kontrolle über sein Auto verlieren, sie wäre nicht die Erste gewesen. Aber wieso hatten weder Gutachter noch Polizei Hinweise darauf gefunden?

Es habe keine Bremsspuren auf der Straße gegeben, sagten sie. Es habe überhaupt keine Spuren neben der kaputten Leitplanke gegeben, die ihr Fahrzeug durchschlagen hatte und hinter der es gute fünfzig Meter ungebremst den Hang hinab geflogen war. Förmlich zerrissen hatte es den kleinen Polo, in dessen ausgebrannten Resten Jäger ihren Körper am nächsten Tag gefunden hatten.

„Rauchen ist tödlich“, warnt mich das Zigarettenpäckchen und „Na hoffentlich“ denke ich, während ich mir eine Kippe anzünde, abgelenkt für einen Moment von der Flamme des Streichholzes. Vom Feuer, das das letzte gewesen sein mag, was Anna in ihrem Leben gesehen hat – und das hoffentlich auch das meine um ein paar Jahre verkürzen wird. Die Sucht ist ein Selbstmord auf Raten, der Ausweg des Feiglings. Dabei habe ich im Grunde genommen immer Selbstmordgedanken gehabt. Das, was die Psychologie ‘Suizidale Ideation‘ nennt. Seit ich denken kann, habe ich mich als Selbstmörder empfunden, als ‘Totgeborenen’, der lediglich noch nicht dazu gekommen war, sein Schicksal zu erfüllen. Wirklich versucht habe ich es aber erst einmal. Wegen ihr.

Was es umso unfassbarer macht, dass sie vor mir gegangen, einfach nicht mehr da sein soll. Obwohl wir Weihnachten zusammen feiern wollten, so viele Pläne hatten. Sie war ja auf dem Weg zu mir gewesen, an jenem Abend. Der nächste schmerzhafte Gedanke, die nächste Zigarette. Ich hatte sie noch vor Wildwechsel gewarnt, ihr von dem toten Eber erzählt, den ich auf meinem Spaziergang gesehen hatte. Sie war da schon im Auto gewesen und unser letztes Gespräch im Bewusstsein des baldigen Wiedersehens so belanglos, das mir schlecht wird.

Irgendjemand kommt raus, drückt mir einen Obstler in die Hand, aber ich drehe mich nicht einmal um, um zu sehen, wer. Überquere stattdessen die Straße und lasse mich auf einem Schneehaufen nieder, Zigarette in der einen und Schnaps in der anderen Hand.

„There are faster ways to kill yourself“. Game of Thrones. „Not for a coward, nicht für einen Feigling“. Tyrion Lannister.

Wie kalt es ist.

© Frederik Dressel 2021-12-26

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Romane & Erzählungen
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