Eine haarige Angelegenheit

Andrea Eva Ritzberger

von Andrea Eva Ritzberger

Story

Ich glaube grundsätzlich an das Gute im Menschen. Niemand ist von Geburt an böse. Es gibt immer eine Geschichte dazu, warum jemand so ist, wie er eben ist. Und manchmal trügt der Schein.

„Never judge a book by its cover.“ Damit bin ich immer gut gefahren.

Bis zu diesem kleinen Zwischenfall im Fitness-Studio, der meine Gutmensch-Theorie ins Wanken gebracht hat.

Besten Gewissens, mein Yoga-Programm absolviert zu haben, gönnte ich mir eine ausgiebige Dusche. Vor den Duschen befand sich ein Pult mit Föns, wo ich einige meiner Pflegeprodukte abstellte. Den Körper vom Schweiß befreit, war als nächstes meine Frisur dran, aber ich stellte überrascht fest, dass das Haaröl plötzlich fehlte. Ich versicherte mich im Mülleimer, dass es nicht einfach nur hinuntergefallen war, das Credo vom Guten im Menschen war immer noch intakt.

Ich hatte es doch genau auf dieses Sims gestellt? Oder? Hatte ich nicht? Ganz kurz zweifelte ich an meinem Verstand. Sicher! Hatte ich. Ganz bestimmt…

Das Öl war aber nicht da. Wo war das Ding bloß hingekommen? Und vor allem, warum sollte jemand ein Sieben-Euro-Produkt mitgehen lassen?

Hatte eine meiner Yoga-Kolleginnen einen derart desaströsen Bad-Hair-Day, dass mein Kosmetikprodukt dafür herhalten musste?

War jemand Opfer eines missglückten Friseurbesuchs geworden, dem mein herumstehendes Haaröl gerade recht kam?

Vielleicht war eine Kakerlake aus der Dusche gekrochen, und einer der Damen standen die Haare vor Schreck so zu Berge, dass sie in meinem Pflegeprodukt die einzige Rettung sah?

War bei irgendjemandem ein akuter Spliss-Notstand ausgebrochen?

Vielleicht war es auch viel schlimmer, und der Haarfraß hatte sich schon so weit verbreitet, dass ein selbsternannter Robin-Hood der Spliss-Opfer den Anschlag von langer Hand geplant hatte?

Oder war die Corona-Armutsfalle schon voll zugeschnappt, sodass sich die Leute kein eigenes Haaröl mehr leisten konnten?

Oder wollte es sich eine der Damen einfach nur ausborgen? Sie hat zuviel von dem Öl erwischt, die Flasche ist dabei wie ein glitschiger Fisch aus ihren Händen geflutscht und in weitem Bogen zufällig genau in die eigene Tasche geflogen?

Ob es wohl Spürhunde gibt, die auf Kosmetika anschlagen?, fragte ich mich. Das Ding hatte immerhin sieben Euro gekostet. Ich erinnerte mich daran, wie ich es damals in den Einkaufskorb geworfen hatte. Das Etikett schillerte in den grellsten Farben, es versprach wundersame Wirkung, und ich musste es unbedingt haben. In Wahrheit hat es nie wirklich gehalten, was die Werbung versprochen hatte.

Und da fiel mir wieder ein: „Never judge a book by its cover.“

photo: S. Hermann und F. Richter auf Pixabay

© Andrea Eva Ritzberger 2020-08-22

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