Eine Taube im Käfig

AnonymWriter

von AnonymWriter

Story

Es gibt einen Käfig, direkt neben einem großen Fenster. In diesem Käfig sitzt eine Taube. Sie schaut hinaus, beobachtet die anderen Tauben, wie sie frei in der Luft schweben, kreisen und mit dem Wind tanzen. Die gefangene Taube hat dieselben Flügel, dieselben kräftigen Muskeln. Sie könnte genauso hoch steigen, sich genauso weit hinauswagen – wenn da nicht die Gitter wären, die sie zurückhalten.

Wenn ich über mein Leben nachdenke, fühle ich mich oft wie diese Taube. Eingesperrt, eingezwängt in ein Leben voller Begrenzungen und Regeln, die mir andere auferlegt haben. Ich wusste, dass ich Flügel habe, dass ich das Potenzial habe, meine eigenen Wege zu finden und die Welt zu erkunden. Aber diese Freiheit blieb mir verwehrt. Die Gitterstäbe waren die Sorgen meiner Familie, die ständige Angst meines Vaters, dass die Welt draußen zu gefährlich für mich sei. Jede Regel, jedes Verbot, jede Angst war ein weiterer eiserner Stab, der meinen Käfig formte.

Die Isolation hat mich innerlich erdrückt. Es war, als würde der Druck in meinem Inneren immer weiter ansteigen, wie Wasser, das in einem geschlossenen Raum immer höher steigt, bis man das Gefühl hat, es würde einen zerdrücken. Es war nicht die Angst vor der Welt da draußen, sondern das ständige Gefühl, nicht hinaus zu dürfen, das mich zu einem Punkt brachte, an dem ich nicht mehr atmen konnte. Meine Leidenschaft, meine Träume, alles fühlte sich eingesperrt an, als würde ich Stück für Stück innerlich zerbrechen.

Und dann? Dann kam der Tag, an dem ich den Käfig verlassen durfte – oder vielmehr, an dem ich mich herausbrach. Doch als ich hinausflog, war die Welt nicht das, was ich mir in meinen Träumen ausgemalt hatte. Sie war groß, wild, ungeordnet. Alles, was ich bisher nur aus der Ferne beobachtet hatte, war plötzlich greifbar und fremd zugleich. Die Freiheit, nach der ich mich so lange gesehnt hatte, fühlte sich jetzt überwältigend an. Denn niemand hatte mich auf diese Freiheit vorbereitet. Niemand hatte mir beigebracht, wie man fliegt, wenn es keine Gitter mehr gibt, die den Weg bestimmen.

Diese Welt, die für die anderen selbstverständlich war, war für mich ein fremder, beängstigender Ort. Und mit dieser Angst kamen Zweifel. Was, wenn mein Vater recht hatte? Was, wenn diese Freiheit eine Gefahr war? Diese Zweifel nisteten sich tief in meinem Kopf ein und wuchsen dort wie Dornen, die sich immer tiefer bohrten. Sie lösten Ängste aus, Verwirrung, und irgendwann begannen diese Gedanken, meine Wahrnehmung zu verzerren.

Die Taube im Käfig, die ich war, hatte das Fliegen nie gelernt. Jetzt, da der Käfig offenstand, kämpfte sie darum, ihre Flügel richtig zu nutzen. Doch die Jahre der Isolation hatten Spuren hinterlassen. Traumata, Angststörungen, das ständige Gefühl, nicht dazuzugehören – all das war das Echo eines Lebens im Käfig. Eine Welt, die mir als falsch verkauft wurde, wurde plötzlich meine Realität, ohne dass ich darauf vorbereitet war.

© AnonymWriter 2024-10-28

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Emotional, Traurig