von Laura Lange
»Leise singt die Nachtigall in die Nacht hinein, ihr schönes schwarzes Kleid so fein, glänzt in dem hellen Mondessschein.«, ihre Stimme zitterte. Sie hatte mir früher immer zum Einschlafen vorgesungen, doch ich habe sie es lange nicht mehr singen gehört. Dass mein Herzschlag sich beruhigte, war eine physische Reaktion auf diese Töne, die sie mit ihren Lippen formte. Und trotzdem schien er mir nur etwas vorzumachen. Meine Ohren funktionierten besser als sonst, meine Muskeln warteten nur auf den Moment, wo sie blitzschnell Höchstleistungen abrufen mussten.
Stimmen, tiefe dunkle Männerstimmen, sie kamen immer näher. Wie eine Tsunami-Welle sah man das Unheil schon kommen, mit dem Wissen ihm nicht mehr entkommen zu können. Ich spürte Lillys schnellen Atem an meiner Stirn. Er war trocken und gleichmäßig. »Komm, in den Schrank!«, sie lief mit mir quer durchs Zimmer, zog die Schranktür auf und schmiss mich rein. Ich wollte sie mitziehen, hielt ihr Handgelenk fest, aber sie riss sich los. Was soll das? Meine Augen schlugen hektisch in alle Richtungen aus, während ich vergebener maßen mit meinen Händen in die Luft griff. Wie benommen fiel ich in meinen alten Kleiderschrank und die Verzweiflung hinterließ ein Chaos in meinem Kopf, sodass ich nicht einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich schrie sie weinend an, dass sie bitte zu mir kommen soll und was das denn überhaupt alles soll. Ich schrie noch weiter, während sie die Tür schloss und den Schlüssel im Schloss umdrehte. Zwei dumpfe, knarrende, alte mechanische Rädchen und die Holztür trenne mich von ihr. Zwischen ihrem und meinem Schicksal liegt eine Tür, ein Schloss und ein alter Schlüssel.
Dann wurde meine Zimmertür eingetreten, ihre großen schweren Stiefel donnerten auf meinen Holzboden. Wie viele es waren? Ich weiß es nicht. Ich hörte, wie Lilly schrie und plötzlich verstummte. Ich rang verzweifelt nach Luft. Ich wollte schreien, ich wollte rausstürmen, ich wollte sie retten. Aber nichts dergleichen geschah. Ich erlebte alles, es war real und trotzdem fühlte es sich an, als würde man einen schrecklich schlechten Film schauen. Die Töne lagen in meinen Ohren, die Bilder spielten vor meinem geistigen Auge und doch schien alles so fern. Ich ließ es einfach passieren. Selbst das Vergießen einer Träne blieb aus. Die Angst, dass sie mich entdeckten, war zu groß als dass ich es mir leisten konnte eine Träne auf den Einlegeboden meines Schrankes fallen zu lassen. Also tat ich nichts. Zwischen ihrem und meinem Schicksal liegt eine Tür, ein Schloss und ein alter Schlüssel.
© Laura Lange 2023-08-15