von NeleChryselius
Eine kalte Winternacht im Jahr 1962. Nele und Ellen schreckten aus dem Tiefschlaf auf. Vom Nachbarzimmer, dem Schlafzimmer der Eltern, drangen Schreie zu ihnen. Beide Eltern riefen um Hilfe. Schlagartig saßen die Töchter kerzengerade in ihren Betten. Sie trauten sich nicht, Licht zu machen.
„Einbrecher“, flüsterte Ellen. Starr vor Angst warteten sie auf weitere Töne aus dem Nebenraum.
Totenstille. „Meinst du, der Räuber hat sie umgebracht?“, fragte Nele. „Wir müssen nachsehen. Sei so leise wie möglich, vielleicht ist er noch im Haus“, flüsterte Ellen.
Während sie zur Tür schlichen, hörten sie erneut die Stimmen der Eltern. Jetzt redeten sie miteinander.
Erleichterung.
Die Mädchen konnten Wortfetzen verstehen. Ihre Mutter hustete, sie schimpfte mit heiserer Stimme. Die Kinder verstanden das Wort ‘gewürgt’. Aus dem Wortschwall des Vaters hörten sie deutlich ‘völlig fertig’.
Ellen und Nele hatten inzwischen die Schlafzimmertür der Eltern erreicht. Dahinter war jetzt ein heftiges Wortgefecht entbrannt. Die Kinder öffneten die Tür, die Eltern stritten heftig. Die Mutter hatte sich in Rage geredet: „Heimtückisch im Schlaf erwürgen wolltest du mich!“. „So ein Quatsch! Ich konnte mich in letzter Sekunde retten“, war die empörte Antwort des Vaters. „Ach so, du drückst mir die Kehle zu, um dich zu retten?“, rief die Mutter aufgebracht.
Die Kinder schauten sich bedrückt an. Schließlich schrie Nele: „Könnt ihr mal aufhören?!“ Verdutzt drehten die Eltern ihre Köpfe Richtung Tür. „Was macht ihr denn hier?“, fragte der Vater erstaunt. „Wir dachten, ihr seid überfallen worden und womöglich tot“, schluchzte Nele. Das verzweifelte Kind brachte die Mutter wohl zur Räson. „Sterben sollte nur ich“, meinte sie – nun allerdings mit einem Augenzwinkern. “Euer Vater hat mich so heftig gewürgt, dass ich die nächsten Tage nur Rollkragen tragen kann”.
Es stellte sich heraus, dass beide Eltern schlecht geträumt hatten. Ein einzelner Albtraum ist manchmal schlimm genug. In dieser Nacht hatten sich gleich zwei Albträume in ein Ehebett geschlichen.
Der Traum, der Neles Vater plagte, zwang ihn, um sein Leben zu laufen. Er war in einem engen Eisenbahntunnel und hörte hinter sich den Zug näher kommen. Der Vater rannte, so schnell er konnte, erreichte erschöpft das Tunnelende, sprang von den Gleisen und klammerte sich an einen Pfosten, der dort glücklicherweise stand.
Im Albtraum der Mutter ging es um eine Verfolgungsjagd. Sie lief allein durch einen dunklen Park und bemerkte, dass ein Mann hinter ihr her war. Sie beschleunigte ihre Schritte, rannte um ihr Leben, aber schließlich holte der Fremde sie ein. Er packte und würgte sie – fatalerweise genau in dem Moment, als ihr Ehemann den rettenden Pfosten zu fassen bekam.
Naja, im Traum kann sich ein Hals wie ein Pfosten anfühlen.
© NeleChryselius 2020-10-06