Eine unkritische Liebe im Hier und Jetzt

Anne Michel

von Anne Michel

Story

Das Jahr 1968 war aufregend und inspirierend. Die Flowerpowerbewegung beeinflusste mein Denken und meine Kleidung. Ich fand mich wieder, in den gewaltlosen Protestbewegungen und weinte bittere Tränen, als Martin Luther King am 04-04-1968 in Memphis ermordet wurde. Die Welt versank für mich in tiefe Traurigkeit, als am 21-08-1968 der Prager Frühling durch den Einmarsch der Warschauerpaktstaaten endete. Ich trug Bluejeans, Polohemden und Boots, die „Uniform“ der damaligen Zeit. Es mir immer noch ein Rätsel, wie ich mir die Hosen überziehen konnte, so eng wie sie waren. Zu meiner bevorzugten Kleidung gehörten Miniröcke, die so kurz waren, dass ich beim Bücken in die Knie gehen musste. Dazu trug ich Schuhe mit schwindelerregend hohen Plateausohlen, die meine Körpergröße vorteilhaft nach oben verlängerten. Ein «netter» Kollege meinte einmal scherzhaft, dass meine Haare länger wären als meine Röcke. Ich las: «Verdammt in alle Ewigkeit» von James Jones und trauerte mit den leichten Mädchen aus dem Bordell um die toten Soldaten, die bei dem sinnlosen Angriff der Japaner auf Pearl Harbor ums Leben kamen. Wie Oliver im Roman von Johannes Maria Simmel beklagte ich, dass Liebe nur ein Wort ist, weil seine große Liebe Verena sich am Ende doch für die Macht des Geldes, des Ruhms und der gesellschaftlichen Anerkennung entscheidet. Ich weinte Rotz und Wasser beim Lesen von „Lovestory“ als Jenny in Olivers Armen an Blutkrebs starb und mir nun klar war, dass Liebe bedeutet, niemals um Verzeihung bitten zu müssen. Es war die Zeit der Stones und der Beatles. Naturgemäß lagen mir die Stones mehr. Sie waren rebellisch, trotzig und aufsässig. Diese Charakterzüge waren mir nicht fremd. In diesen turbulenten Tagen erlebte ich meine erste große Liebe. Eine Liebe, wie sie unkritischer, naiver und sorgloser nicht hätte sein können. Eine Liebe im Hier und Jetzt. Eine Weile im Wolkenkuckucksheim, die geprägt war, von einem Gefühl unbändiger Lebensfreude, Unbeschwertheit und Freiheit. Als Kinder unserer Zeit hörten wir bevorzugt Soul und Blues. Eng an meinen Freund gekuschelt saß ich in meinen Gedanken mit Otis Redding on the docks of the bay. Ich verlor mich auf den schummrigen Kellerparties bei „A wither shale of pale“ von Procol Harun in den Armen meines Freundes beim Stehblues. Aber im wirklichen Leben gibt es kein Wolkenkuckucksheim oder der Aufenthalt dort ist zeitlich sehr eng begrenzt. So war es auch bei mir. Nach einem halben Jahr endete diese bezaubernde Episode in meinem Leben. Der Mix aus Robert Redford, Robert Hoffmann und George Nader zog weiter zu neuen Ufern. Selbst heute, nach so langer Zeit, werde ich eingehüllt in einen märchenhaften Mantel aus Liebe, Wärme und Geborgenheit, wenn ich an diesen Lebensabschnitt denke. Dann erlebe ich wieder die Freiheit und die Sorglosigkeit, die für meine erste Liebe so charakteristisch waren. Und ich verspüre große Dankbarkeit, dass ich solch eine himmlische Liebe erleben durfte.

© Anne Michel 2021-02-14

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